Oktober 2021: Starte Tag X.
Zwanzig Minuten nach der letzten Zigarette pendeln sich Puls und Blutdruck auf normalem Niveau ein. Außerdem beginnen Hände und Füße, sich aufzuwärmen, und die Durchblutung der Haut nimmt zu.
Das hier ist eine Girl-meets-Boy-Geschichte. Eine von denen, die nicht gut ausgehen. Eine von denen, bei der die Unmöglichkeit der Geschichte das Ganze für sie und für ihn noch ein bisschen appetitlicher macht. Eine von denen, bei der man sich als Außenstehende*r fragt, wie viel Mitleid man noch aufbringen kann, weil sie es doch beide zu wollen scheinen, das Elend.
Damals – vor drei Jahren – ist das Spiel bei 0:0 losgegangen.
Es hat sich schnell herausgestellt, dass er besser spielt als sie. Sie hat sich für clever gehalten, aber nicht gemerkt, ab wann der Punkt überschritten ist, an dem Selbstoffenbarung zu Selbstausbeutung wird. Hat sich selber vor die Gleise geschmissen. Die Frau, die so cool mit allem ist, dass es für andere unangenehm wird. Überangepasst unangepasst.
Als es schon 3:0 für ihn stand und sie sich eigentlich nur noch selten gesehen haben, hat sie an einem Abend zu ihm gesagt: „Letztendlich gehts glaub ich um Hoffnung. Du weißt ja, wie das Leben ist. Du weißt, wie Photosynthese funktioniert, du weißt, wie Kinder gemacht werden und wann deine Lebenszeit wahrscheinlich ablaufen wird. Aber manchmal läuft dir etwas über den Weg, was ganz vielleicht alles ändert. Dich glauben lässt, dass es Ausnahmen gibt. Da kann glaub ich kein Mensch seine Hoffnung drauf abschalten.“
Sie macht sich eine Zigarette an. Sie sitzen bei ihm zuhause, er auf seinem wackeligen Schreibtischstuhl, sie auf seinem Schoß. Er denkt darüber nach, ob der Schreibtischstuhl sie beide auf Dauer aushalten kann. Sie denkt daran, wie erstaunlich schnell die Zeit vergeht, wenn sie beide zusammen sind.
„Wir wollen doch alle an Gott glauben, wenn der Verstand es uns nicht so verdammt schwer machen würde.“, sagt sie. „Und ich will damit nicht sagen, dass Planetenkonstellationen damit was zu tun haben müssen. Aber irgendwas, was dich glauben lässt, dass vielleicht doch nicht alles mittelmäßig ist. Dass es vielleicht doch alles einen Sinn ergibt. Ein Happy End ...“
Sie steht jetzt auf, setzt sich mit Weinglas und Zigarette auf sein Bett und schaut ihn an. Er lehnt sich zurück in seinem Schreibtischstuhl, streckt sich erst, begegnet dann ihrem Blick und denkt daran, wie erstaunlich schnell die Zeit mit ihr vergeht.
„Du meinst nach dem Motto: Am Ende des Filmes findet man den Helden wieder und wenn er sich entschieden hat, was wahr ist, wird er Yoga machen?…“, sagt er.
Sie verdreht die Augen. „Wenn Yoga machen dein verzerrtes Bild für glücklich sein ist, dann ja, vielleicht?“
Er versteht sie. Er mag sie. Aber es steht halt schon 3:0. Sie hat keine Chance mehr. Und er keine Geduld.
Er ist zu sehr ihr Vater, sie ihm zu potent. Was eine perfekte Paarung hätte sein können, wird für sie beide zu einer hässlichen Fratze ihrer beider Schwächen.
Sie bleiben verbunden durch ihre Fratzen. Solange sie die noch schneiden, können sie einander nicht loslassen. Sie würden vielleicht von sich behaupten, dass sie die Einzigen sind, die sich gegenseitig hinter die Fratzen gucken können und deswegen miteinander verbunden bleiben. Andere würden wieder sagen, das wäre ungenau. Die Wahrheit bleibt dahingestellt.
Jedes Mal, wenn sie sich über den Weg laufen, verbringt sie die Tage danach damit, sich zu fragen, warum sie nicht jeden Morgen neben ihm aufwacht und ihr Leben mit ihm teilt. Wo doch alles dafür spricht.
Immer wenn sie sich über den Weg laufen, bekommt er danach einen Schnupfen. Aber er ist auch ein bisschen großzügiger mit sich, wenn sie sich getroffen haben. ‚Geerdet wirkst du’, sagt seine Mutter zu ihm, nachdem sie und er sich zufällig in der Bahn getroffen, zusammen ausgestiegen und zwei Stunden im U-Bahnhof dicht aneinander gestanden und nicht genug von den Gedanken des anderen bekommen haben. Er hat danach weniger geraucht und sich nicht mehr so getrieben gefühlt. Seine Mutter hat das gemerkt.
Meistens halten diese Gefühle bei ihnen circa zwei Wochen an und mit jedem Tag, der vergeht, vergessen sie. Sie vergisst, auf ihr Handy zu gucken, um zu sehen, ob er geschrieben hat. Er vergisst, ihr zu schreiben.
So werden sie älter.
Acht Stunden nach der letzten Zigarette sinkt der Kohlenmonoxidgehalt im Blut auf den Normalwert und die Durchblutung verbessert sich, sagt man. Sie war eigentlich immer ziemlich gut durchblutet.
Im Oktober diesen Jahres hört sie auf zu rauchen. Sie will nicht mehr denken, stattdessen verbringt sie ihre Zeit mit essen. Es fängt an mit Carrot Cake. Den von Edeka, mit dickem weißen Icing. Nach einer Woche, in der sie sich ihn jeden Tag nach Feierabend gekauft hat, kann sie ihn nirgends mehr entdecken. Wahrscheinlich hat niemand außer ihr Interesse an dem Carrot Cake, sie sieht ihn nämlich nie wieder und vermutet, dass er bis heute nicht nachbestellt wurde. Als Alternative probiert sie es mit Schoko-Kokos und mit Apfelkuchen, beides gefällt ihr nicht. Für Eis ist es im Oktober zu kalt. Hafer-Schoko-Riegel sind ganz gut, Kekse auch, obwohl man dafür schon echt trainiert sein muss, weil die den Magen so schnell vollmachen. Es hilft, die Kekse in Kaffee oder Tee zu tunken, dann sind sie wie vorgekaut und der Magen merkt langsamer, wie viel ihm grade zugeführt wird.
Sie liest, dass das Herzinfarktrisiko 24 Stunden nach der letzten Zigarette erheblich zurückgeht.
Weißes, großes Toast mit Käse und veganer Mortadella in den ersten fünf Gängen und dann Nutella mit Frischkäse in den darauffolgenden fünf Gängen, sind der nächste Trend. Danach kommt eine kurze Dickmann-Phase. Die verkleben ihr aber total das Bett, weil sie so schläfrig wird von der marshmallowähnlichen Masse, dass sie während des Essens einschläft. Sie beschließt, dass sie es mit leichterer Kost probieren muss, damit sie den ganzen Tag essen kann, dabei aber weder kotzen muss, noch einschläft. So saure Dinos, die ganz neu im Sortiment und vegan sind, tun es eine Weile. Aber saures Zeug macht ihr immer wahnsinnige Zahnschmerzen, deswegen steigt sie schnell auf englische Weingummis um. Manchmal auch Lakritze. Aber Lakritze darf man nicht unterschätzen. Die macht schlimme Nebenwirkungen. Wenn man nicht vorsichtig isst, bekommt man schlimme Krämpfe, die einen im Zweifel stundenlang auf dem Klo festhalten. Und das ist auch nicht Sinn der Sache. Sinn der Sache ist Koma.
Sie liest, dass sich die Enden ihrer Nervenbahnen zwei Tage nach der letzten Zigarette erholen. Der Geruchs- und Geschmackssinn soll sich dann verbessern.
Die Gummibärchen machen ihr nach ein paar Tagen zu sehr Sodbrennen, so dass sie beschließt, den Zucker mit Fett zu ersetzen und sich auf frittiertes Essen zu konzentrieren. Dabei ist nur das Problem, dass es das Essen sehr öffentlich macht. Andere Leute riechen noch stundenlang ihre Eskapaden, und das ist – wie Kacken – für sie etwas sehr Privates. Zum Glück entdeckt sie dann Müsli, als sie einmal in einem Supermarkt an der Friedrichstraße einkaufen geht. Dieser Kindermix, bei dem alle zuckrigen Kellogg’s-Sorten in kleiner Variante als Mix-Paket verkauft werden, den hat sie ganz vergessen all die Jahre und freut sich jetzt darauf, nicht wie früher nur ein Paket pro Tag essen zu dürfen, sondern alle Packungen gleichzeitig. Das Fazit nach einer Woche exzessivem Kellogg’s-Konsum: zu viel Müll und zu großer Aufwand für nur mittelmäßige Befriedigung. Also lieber große Packungen in sechsfacher Ausführung. Das Essen wird zeitaufwändiger, ihr Kopf ist beschäftigt, der Alltag voll.
Nur wenn sie aus dem Fenster guckt, das ist jedes Mal ein Fehler. Den Blick in die Ferne kann sie sich nicht leisten in ihrer Situation. Am schlimmsten ist es mit Sonnenuntergängen. Sie hat genug Kunstgeschichte gehabt in ihrem Leben, um zu wissen, dass Sonnenuntergänge romantisch sind. Die hat sie sonst nur in Verbindung mit Zigaretten gewagt. Zigaretten sind Meister darin, die schmerzhaftesten Dinge schön zu machen. Mit Zigarette wird man Teil der romantischen Szenerie, die man vor sich hat. Teil der Natur, wie in den Gemälden von Caspar David Friedrich. Der Sonnenuntergang, der Wasserfall oder die Gebirgskette, gemalt zusammen mit der einen Person, die man von hinten sieht, im vorderen Teil des Bildes, die das Naturspektakel beobachtet. Wikipedia sagt, dass Friedrichs Bilder die Sehnsucht eines vom Schicksal gezeichneten Menschen nach der heilen Welt verkörpern. Wenn der vom Schicksal gezeichnete Mensch, den man von hinten sieht, eine Zigarette in der Hand halten würde, an der er ab und zu ziehen und an der er sich im Zweifel festhalten kann, während er nachdenklich in die Ferne guckt, dann vielleicht. Dann kann er sich vielleicht eine heile Welt wünschen. Kann daran glauben, dass es sie gibt. Ohne die Zigarette fehlt der Situation die Fiktion, die das Ganze aushaltbar macht. Die Geschichte, in die man den Schmerz einbetten kann. So – ohne Kippe – bleibt ihr nur fühlen ohne Fantasie. Das Fühlen von all dem fantasielosen Kummer, der es bis dato nicht in ihren Kopf geschafft hat, weil die Zigarette jedes Mal parat war und den Tumblr-Filter von selbstzerstörerischer Schönheit über alles gelegt und sie nicht hat sehen lassen, wie verschissen traurig und ausweglos dieses Leben in Verbindung mit so einem verschissen schönen Ausblick erscheint. Die Zigarette ist der romantische magic stick, dem sie sich – warum auch immer, sie kann sich beim besten Willen nicht erinnern – jetzt entzogen hat und der ihr schmerzlich alle zehn Minuten fehlt. Ohne Romantik lebt sie vielleicht länger, aber auch unvergleichlich schlechter.
Zynische Comedians mit einem Faible für leicht homophobe Bemerkungen helfen ihr, den Tag zu überstehen. Wenn Lachen ist, wie essen und pinkeln, dann könnte man sagen, sie kümmert sich um ihre Grundbedürfnisse.
Sie fragt sich, wann ein Gott kommt und sie dafür belohnt, dass sie das Ganze hier aushält. Was, wenn es ihr nicht reicht, nur besser zu riechen? Wenn’s ihr nicht reicht, dass sie sich und ihrem Körper Gutes tut? Kommt hier noch ein anderer Jackpot? Was, wenn alles keinen Sinn ergibt? Und immer weiter keinen Sinn ergibt. Und bis in die unbestimmte Zukunft keinen Sinn ergeben wird. Im Suchtkopf. Und sie ewig darauf warten muss, belohnt zu werden, vom Leben. Dafür, dass sie so tapfer ist. Ewig auf ein Zeichen von irgendwo warten muss, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Dass sie schon bald erlöst werden wird. Von ihrem eigenen Kopf. Was, wenn niemals jemand kommen wird.
Sie kann dann irgendwann nicht mal mehr ins Fitnessstudio gehen, keine Freunde mehr treffen, kaum um sich herum gucken, weil überall Ausblicke und Gerüche und Sonnenuntergänge auftauchen, die sie aus dem Konzept bringen. Ihr Alltag wird ein Spießrutenlauf. Es wird nahezu unmöglich, den ganzen Tag so satt zu sein, dass sie sediert und gleichgültig bleibt. Das Ganze ist kein Deut billiger oder gesünder als Kokain, geschweige denn Zigaretten, denkt sie oft. Sie würde dem Ganzen gerne eine „..und die Moral von der Geschichte“ abgewinnen, aber der Sinn bleibt aus.
Die Sonnenuntergänge, denen sie nicht entgehen kann, häufen sich. Einen Tag übermannt es sie auf dem Fahrrad, dann noch einmal zu Fuß, dann fast jeden Tag und in jeder Situation. Der Bann scheint gebrochen. Und sie hat dem Sonnenuntergang nichts entgegenzusetzen. Weder eine fantasierte Autonomie, sich die Zigarette anmachen zu können und den Schmerz mit sich selbst auszumachen, noch die Option, ihre Liebesgeschichte mit einer Metaebene auszuschmücken und zu einem Film zu machen, der zum Schluss mit einem wissenden Nicken und einem „Ja klar, macht Sinn“ oder einer gerührten Träne auf Seiten der Zuschauer*innen endet. Also steht sie da, fast jeden Tag, meistens in der Nähe des Tiergartens und schaut den Sonnenuntergang, mit einem blutenden Messer im Bein und keiner Zigarette im Mund. Und es wird nicht besser mit der Zeit. Sie bekommt keine Einsicht, keiner ihrer Gedanken ist es wert, aufgeschrieben zu werden. Sie ist nicht gereinigt, nicht befreit, nicht geläutert. Sie ist eine fast junge Frau, die so lange geraucht hat, dass ihre Augenpartie in jedem Falle faltiger sein wird, als die einer Nichtraucherin, deren Fruchtbarkeit definitiv von ihrem 15-Jährigen Konsum beeinflusst ist, die keinen Tag in ihrem Leben vergehen lassen wird, ohne an Zigaretten zu denken und deren Herz gebrochen wurde, vor so langer Zeit, dass es peinlich ist, noch laut darüber zu sprechen. Sie ist abgehängt, kein Trend geht in ihre Richtung. Die jungen Leute vapen jetzt. Keiner macht sich mehr abhängig von der Gnade eines Mannes. Keiner ist mehr unglücklich, alle sind depressiv.
Sie gibt auf, aus ihrem Leben eine Geschichte machen zu wollen, die für etwas steht. Der Typ steht für nichts, die Zigaretten stehen für nichts, das Essen steht für nichts und ihr Gewicht steht auf zehn Kilo schwerer, aber diese zehn Kilo – die stehen für nichts. Für Gelenkprobleme im Alter vielleicht. Oder Diabetes Typ II in ein paar Jahren. Und wenn das alles ist, wofür 10 Kilo Gewichtszunahme stehen, wofür Binge-Eating steht und Sucht, dann stehen sie für nichts, aber bedeuten alles Mögliche. Dann kann er selbst der Typ bleiben, der für immer ihr Herz hat. Ohne dass er für ihr Unvermögen steht, geliebt zu werden. Oder Zigaretten. Vor drei Jahren hat sie 23 Zigaretten pro Tag geraucht. Heute raucht sie 23 Zigaretten pro Tag nicht. Und: die gerauchten Zigaretten stehen nicht für Rock ’n’ Roll. Die nicht gerauchten Zigaretten stehen nicht für Selfcare. Diese 46 Zigaretten, sie stehen für nichts. Und was sie bedeuten, das wird sie sich noch überlegen.
Ihre App sagt, dass sie am 27. Juli 2037 vollständig regeneriert sein wird. Dass sie dann den Gesundheitszustand einer Nichtraucherin erreicht haben wird. Und dass sie sich über jeden dazugewonnenen Lebenstag freuen soll.