Die Variabilität der Sehweise ist Teil meines künstlerischen Arbeitens. Oft wirken die Arbeiten auf den ersten Blick verständlich, entziehen sich auf den zweiten Blick dann jedoch und offenbaren ihren Inhalt erst durch Partizipation oder aus einem anderen Blickwinkel heraus. Diese sich immer wieder neu verändernden Bedeutungen und das Hinterfragen der eigenen Sehweise ist es, was mich an künstlerischem Arbeiten besonders interessiert.
In der Kategorie der künstlerischen Medien sehe ich mich als eine Art Grenzgängerin. Ich bediene mich fotografischer Narrative, male jedoch auch, fertige Siebdrucke an und installiere meine Arbeiten aktiv als Objekte im Raum. Dabei interessieren mich die Ränder dieser Kategorien, ihre Überschneidungen und vermeintliche Abgrenzungen voneinander. Dieses fluide intermediale Bewegen führt dazu, dass ich mich zugleich einer eindeutigen Medienspezifik entziehe und trotzdem großes Interesse an den einzelnen Narrativen behalte. An Fotografie reizt mich beispielsweise, dass sie Geschehnisse und Dinge, die zuvor nur von wenigen Menschen unmittelbar erfahren werden konnten, “scheinbar genau so, wie sie sich abgespielt hatten, festhalten […]”1 kann.
Die Konstruktion dieses dokumentarischen Moments versuche ich in meinem Arbeiten aufzuzeigen. Vilém Flusser, ein Philosoph, der mich sehr geprägt hat, schreibt, dass sich die “Kritiklosigkeit den technischen Bildern gegenüber […] als gefährlich herausstellen [muss] in einer Lage, wo die technischen Bilder daran sind die Texte zu verdrängen.”2 Durch überspitzte Bildbearbeitung wie in der Arbeit Körper (2020), oder durch einen nicht gleich ersichtlichen Entstehensprozess der Fotografien, wie bei den gefalteten object-Arbeiten (2017-2019), lade ich dazu ein, eigene Erwartungen an Fotografie zu hinterfragen und Abbildungen neugierig aber kritisch gegenüberzutreten. Auch die Schnittstelle von Installation und Fotografie untersuche ich schon seit mehreren Jahren künstlerisch. In der Arbeit object 21 habe ich eine Fotografie gefaltet, sie wieder fotografiert und sowohl als Skulptur, als auch als zweidimensionale Fotografie ausgestellt. Der Standpunkt des Betrachtenden entscheidet hier darüber, ob gleich einem Trompe-l’œil die vermeintliche Plastizität über das Zweidimensionale hinwegtäuscht, oder die matte, glatte Materialität gleich auf das Flache rückschließen lässt. Die Transformation eines zweidimensionalen Bildes in ein dreidimensionales Objekt und wieder zurück ist Teil dieser intermedialen Grenzforschung. Die Reproduktion, die im Anschluss der Betrachtende durch eine eigene Fotografie mit beispielsweise einem Smartphone oder einer Kamera anfertigt, ist wieder der nächste Schritt dieser Wiederholung, der von mir bewusst als Teil der Arbeit inszeniert wird. So weichen die Grenzen zwischen der Kunst und der Reproduktion dieser, sowie der Teilhabe des Betrachtenden am Werk immer weiter auf. Reproduktion in der Fotografie meint sowohl, ähnlich Roland Barthes’ Definition, die Reproduktion eines Geschehens im einzelnen Bild als auch “die technische Reproduktion und Zerstreuung dieses einzelnen Bildes”3. Wobei hier, in der Fotografie des Betrachtenden, beide Bedeutungen zusammenfallen. Inspiration ist unter anderem der Künstler Andreas Lolis, der mich besonders mit seinem Werk shelter4 nachhaltig beeindruckt hat. Dieses Werk, das auf der documenta 14 gezeigt wurde und zurzeit im National Museum of Contemporary Art in Athen zu sehen ist, besteht auf den ersten Blick aus einem Haufen Styropor, Paletten und Holzresten und erweist sich erst auf einen zweiten Blick auf die Materialangaben als aus Marmor gefertigt. Dieser gezielte Bruch der Sehgewohnheiten und die so umgesetzte Klassismuskritik hat mich sehr fasziniert. Auch Künstler:innen wie Sherrie Levine, die mit ihrer Fotoarbeit After Walker Evans5 (1981) durch Abfotografieren einer kunsthistorisch bedeutsamen Fotografie die Frage nach Autor:innenschaft, Rolle des Künstlers und Reproduktion durch den Betrachtenden aufwirft, haben mich nachhaltig geprägt.
Neben der Materialität von gedruckter Fotografie auf Papier interessiert mich zunehmend auch retroreflektives Textil. Hier male oder drucke ich mit durchsichtigem Lack, grauer oder weißer Farbe auf grauem Textil, sodass auf den ersten Blick wenig bis keine Struktur erkennbar ist. Erst durch Lichteinfall wird durch Mikrosprismen, die das Textil enthält, das Licht in sein farbiges Lichtspektrum gebrochen und so das Motiv sichtbar. Der pastose Farbauftrag entzieht sich je nach Lichteinfall auf dem Bildträger der Wahrnehmung oder entfaltet sich – umgekehrt – in seiner ganzen Opulenz. Der Betrachtende wird durch einen Hinweis dazu aufgefordert, das Werk mit einem Blitz abzulichten. Durch die Partizipation und aufgrund der Eigenschaften seines Trägermaterials transformiert sich die Arbeit in einem flüchtigen, reversiblen Prozess von einem Positiv- zurück zu einem Negativbild. Erst durch diese Teilhabe des Betrachtenden bekommt die formale und inhaltliche Oberfläche Tiefe.
In den Arbeiten i’m youssef, 6 months. und i’m yasmine, 16. verführt die glänzende, schillernde Oberfläche des Textils und lässt erst auf den zweiten Blick, ähnlich eines Vanitas-Stilllebens, den Abgrund dahinter sichtbar werden. Die Arbeiten sind nach zwei Kindern benannt. Das eine hat die Flucht aus Libyen überlebt, da es von der zivilen Seenotrettungsorganisation SOS MEDITERANNEE gerettet wurde. Das andere, 6 Monate alte Kind, konnte nur noch tot aus dem Meer geborgen werden. Die ästhetische Meeresansicht, ähnlich Hiroshi Sugimotos seascapes6, sowie der farbige Glanz des Lichtspektrums täuschen über den Abgrund dahinter hinweg und hinterlassen eine Ambivalenz, die ich selber, wenn ich das Mittelmeer sehe, nur schwer aushalten kann. Auch Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit tauchen in dieser Arbeit auf. Sowohl formal, dadurch dass das Motiv zunächst unsichtbar scheint und erst durch Handeln des Betrachtenden zum Vorschein kommt, als auch inhaltlich, da marginalisierte Gruppen oft unsichtbar bleiben und die Öffentlichkeit kaum oder selten das Sterben auf dem Mittelmeer bewusst wahrnimmt.
Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass meine Arbeitsweise der Vorstellung eines erfahrungsunabhängigen, dem monadisch in sich geschlossenen Werk entgegensteht, indem sie den Betrachtenden als Teilnehmenden am Prozess inszeniert. Durch die Reproduktion des Werks mit eigener Fotografie wird er sowohl formal als auch inhaltlich mit einbezogen. Diese Verführung durch anschließenden Bruch legt die Konstruiertheit von Bildern offen und wirft den Betrachtenden auf die Variabilität der Sehweise zurück.
1 Benjamin, Walter: Hauskeller, Michael (Hg): Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto, München 2005. S. 69.
2 Flusser, Vilém, Andreas Müller-Pohle(Hg): Für eine Philosophie der Foto-grafie, Berlin 2018, S. 14.
3 Geimer, Peter: Theorien der Fotografie zur Einführung. Zur Einführung, Hamburg 2017, S. 139.
4 https://www.documenta14.de/en/artists/22280/andreas-lolis (letzter Zugriff am 20.05.2021)
5 https://www.metmuseum.org/art/collection/search/267214 (letzter Zugriff am 20.05.2021)
6 https://www.sugimotohiroshi.com/seascapes-1 (letzter Zugriff am 20.05.2021)