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Stellung nehmen!

Eine Aufforderung nach Klaus Mann.

Man lese “Künstler*in” statt Dichter und “Aktivist*in” statt Schriftsteller.

“Muss der Dichter Stellung nehmen zu den Ereignissen seiner Zeit? Die Frage wurde immer viel diskutiert; eine besonders dringliche Aktualität hat sie heute – in einer Zeit also, die noch den Abseitigsten anfällt, beunruhigt, in Anspruch nimmt mit ihrer Not und ihrer Problematik. Manche antworten hochmütig: Nein – der “Dichter” ist nicht verpflichtet, nur der “Schriftsteller” ist es. So reden zum Beispiel Autoren, die in einem Lande leben, wo man gar nicht Stellung nehmen kann, jeder Protest muss heruntergeschluckt werden. Deshalb wird behauptet, dass man auch gar nichts äußern wollte zu so vulgären Fragen, wie Gerechtigkeit und Menschenwürde es sind, dazu sei man zu fein und zu hochgestellt; die “Stellungnahme” überlasse man dem “Schriftsteller” – dem sie natürlich auch verboten ist und der sich deshalb mit einem “Heil!”-Ruf begnügt. –Übrigens ist die ganze Unterscheidung zwischen “Dichter” und “Schriftsteller” bedenklich. Die Grenze ist meistens fließend, und sie verläuft innerhalb einer und derselben geistigen Persönlichkeit. Sogar der reinste “Dichter” – d.h. einer, der sein Leben lang nichts als Lyrik hervorgebracht hat – hat seine gesellschaftskritische, “schriftstellerische” Seite […]. Andrerseits wäre der Schriftsteller ein armer, bemitleidenswerter Kerl, in dessen Prosa niemals das Dichterische, das Geheimnisvolle, die Gnade spürbar wurde – ebenjene Gnade, an der Volk und Eingeweihte den Poeten erkennen. – Entbindet diese Gnade von der Aufgabe, die heute allen Menschen guten Willens gestellt ist? –: nämlich der, zu kämpfen für das Bessere, Zukünftige; gegen das Schlechte, was Verwesungsgeruch hat, wie jugendfrisch es sich auch aufspielt. Um das Irdische muss sich jeder kümmern – auch der, gerade der, der mehr von seinen Tiefen und Verborgenheiten, mehr von Träumen und geheimen Zeichen weiß als die andren. Ja: der Dichter muss Stellung nehmen, sei es durch Appell, sei es durchs Gleichnis. Freilich, er darf über diese “Stellungnahme” nicht die andre Hälfte seines Wesens vergessen – die Traum-Sphäre, die religiöse Sphäre; sonst hört er auf Dichter zu sein (was zu gewissen Zeiten und in bestimmten Situationen keine Niederlage zu bedeuten braucht, vielmehr ein selbstgewollter Verzicht, der nie endgültig sein kann: das andere, das Geheimnisvolle kommt durch; die Gesinnung nur durch Willensleistung). Wenn er aber über der metaphysischen Spekulation, über Traum, Leid und persönlicher Konfession die “Stellungnahme” versäumt – dann hat er versagt in seiner Mission. Denn er ist keine Lichtgestalt, unverpflichtet und schwerelos; er ist ein Kind dieser armen, blutigen Erde, von deren Schuld und Jammer ihn kein Traum befreit”1. Weiter heißt es, dass “[…] der große Schriftsteller seinen besten Rang, seine eigentliche Würde auch dadurch – vor allem dadurch – bekommt und erhält, dass er – schaffend und darstellend – kämpft: gegen das Schlechte, fürs Gute”2.

Illustration: Inga-Marie Ruxton

Bedarf dieser Beitrag des Autors und Publizisten Klaus Mann aus dem Jahr 1934 weiterer Ausführungen? Ich meine, nein: man ersetze, wie gebeten, “Dichter” durch “Künstler*in” und “Schriftsteller” durch “Aktivist*in” und jede*r von uns muss sich angesprochen fühlen. Zudem sei darauf verwiesen, dass auch der Künstler, der sich in seinem Staate frei äußern darf, nicht selten stumm bleibt im Angesicht von Armut und Hunger, Ungerechtigkeit und Benachteiligung, Krieg und Terror, Vertreibung, Flucht und Unterdrückung auf der ganzen Welt, aber auch vor seiner Haustür. Unser Zeitalter wird dereinst nicht nur für das Nebeneinander von rasantem technologischem Fortschritt und bitterem Elend, sondern auch für eine beispiellose gesellschaftliche Fragmentierung bekannt sein. Das erodieren “traditioneller” Werte und Rollenmuster oder die zunehmende Forderung nach politischer, kultureller und öffentlicher Teilhabe bisher marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen sind Abbild dieser Fragmentierung durch Individualisierung. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig, es soll deshalb lediglich angemerkt werden, dass “Freiheit” – in der individuellen Selbstbestimmung, wie auch auf gesellschaftlicher Ebene, die Freiheit der Informationsbeschaffung, die Möglichkeit sich frei zu äußern, die Reisefreiheit sowie freie Wahlmöglichkeiten an immer neuen Stellen im Leben – als eine wesentliche Ursache angesehen werden kann. Unabhängig von den zahlreichen Problemen, die sich aus und neben dieser zunehmenden Freiheit entwickeln, wird es nie endende Bereiche geben, in denen Freiheiten noch zu erringen sein werden oder (erneut) verteidigt werden müssen.

Wir wollen diese Probleme keineswegs kleinreden, denn zu ihnen zählen Orientierungslosigkeit und fehlender Halt für viele Menschen, mitunter daraus folgende (politische und gesellschaftliche) Radikalisierung und im proportionalen Verhältnis eine Zunahme persönlicher Egoismen bei gleichzeitiger Abnahme gemeinschaftlicher Solidarität, jedoch: hier setzt die Verantwortung der Künstlerin ein, denn ein Verlust unserer Freiheit ist nicht nur eine ferne Schreckensvision, sondern Bestandteil des alltäglichen Rechtfertigungsdrucks und Verteidigungszustands unserer Demokratie und würde bei der Künstlerin zudem zu einem Abfall der geistig-künstlerisch-kreativen Expressivität führen.

Der Künstler hat deshalb aus mehreren Gründen eine besondere Verantwortung: kaum jemand (mit Ausnahme einiger freiheitsvergewaltigender Finanz- und Unternehmerhaie) hat so sehr von der Freiheit profitiert wie er. Die Freiheit ist dem Künstler wie dem Menschen die Luft – sie ist zum Überleben notwendig. Nimmt man der Schriftstellerin die Freiheit, die Wörter und Sätze zu formen, die ihr notwendig erscheinen, um sich auszudrücken; dem Maler die Freiheit, in den Farben und mit der Technik seiner Wahl, das Sujet seines Wunsches abzubilden; der Regisseurin die Freiheit, ihre Visionen und Interpretationen zu inszenieren; dem Musiker die Freiheit, die Werke aufzuführen, die er möchte; – nimmt man also einer Künstlerin das Recht, sich gemäß ihrer Kunstform, aber auch darüber hinaus frei zu äußern – ist sie keine schöpfend Schaffende mehr, sondern verkommt zu einer im Gleichtakt der Kolben schlagenden Maschine.

Die Freiheit ist dem Künstler also Schaffensgrundlage, sie ist ihm jedoch in einem noch größeren Maße Inspiration. Denn nicht nur ein Künstler in Freiheit kann aus seinen Erfahrungen und Erlebnissen in dieser geschützten Ummantelung zehren, sondern auch der, dem sie an Orten und zu Zeiten größter geistiger und psychischer Unterdrückung, und sei es nur einen Herzschlag lang, als Traum der Hoffnung aufsteigt. Jenem wird dies Kraft zu einem künstlerischen Selbstausdruck liefern, der so gering erscheinen mag und doch so groß ist, wie das Bewahren der eigenen Würde!

Wir Künstler*innen haben aber nicht nur aus eigenem Interesse die Freiheit zu verteidigen, sondern auch aus gesellschaftlicher Verantwortung. Gesellschaft und Künste bedingen sich gegenseitig: erst wenn die Gesellschaft Interesse für unsere Kunstwerke zeigt, Bücher, Bilder, Kompositionen, Theater-, Konzert- und Kinokarten sowie Kleider kauft; Kulturveranstaltungen fördert; das künstlerische Studium finanziert, haben viele von uns die Freiheit, schöpferisch tätig zu werden. Gleichzeitig wird eine Gesellschaft ohne Kunst zwangsläufig trist, grau, deprimierend und zur Vereinsamung führend sein. Denn der Mensch ist auf die geistige Stimulation durch Kunst ebenso angewiesen, wie er sie zu seinem Eskapismus vom Alltagstrott benötigt. Ohne sittlichen und moralischen Spiegel würde eine Gesellschaft zudem von innen verrotten und verrohen, und schließlich zwangsläufig zu Grunde gehen müssen.

An sämtlichen menschlichen Entwicklungsstufen – von der Höhlenmalerei der Steinzeit über die Antike bis hin zur heutigen Zeit – kann man beobachten, dass Kultur geradezu überlebensnotwendig war und Kulturlosigkeit mit zum Niedergang ganzer Gesellschaften geführt hat. Man vergleiche nur die Bedeutung für die Menschheitsgeschichte des antiken Athens mit der Spartas. In letzterem wurde das gesamte Leben einer Militarisierung untergeordnet, die keinen Raum für kulturelle Entfaltung und geistige Entwicklung zuließ, während uns aus Athen ein reicher Schatz philosophischen, wissenschaftlichen und kulturellen Materials überliefert worden ist. Das 20. Jahrhundert hat zudem in zwölf schrecklichen Jahren bewiesen, wohin der Kampf gegen alles Geistige, alles Freie, alles Unabhängige führt, wohin Diktat und Kulturfeindlichkeit führen: in die unmenschlichste, in die industrialisierte Barbarei.

Arnold Zweig charakterisierte in diesem Zusammenhang die Verantwortung eines Künstlers folgendermaßen: es ist “[…] die einfache Wahrheit, die auf der Hand liegt: […] nämlich das Recht zu verteidigen gegen die Gewalt, die Leidenden zu schützen gegen ihre Verfolger, die Welt an der Gewöhnung, am Hinnehmen des Unrechts zu verhindern, ihren Schlaf zu stören, ihre Bequemlichkeit zu missachten und mit der Trägheit des Herzens aufzuräumen”3. DieVerantwortung von uns Künstler*innen ist es, das Gewissen der Menschheit zu sein! Wo Politik und Demokratie versagen, wo die Zivilgesellschaft erstickt wird, kommt es auf Stimmen der Künstler*innen an. In ihrer Vielfalt haben sie sich global zu äußern – e pluribus unum – nie dürfen sie ruhen zu mahnen, zu erinnern, hinzuweisen. Sie sind die letzte Bastion bevor die Menschlichkeit fällt.

Die Bedeutung der Kunst ist auch deshalb so gewaltig, weil sie einer der ganz wenigen gesellschaftlichen Bereiche ist, in denen eine Synthese aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsvision vollzogen werden kann. Eben dieses Alleinstellungsmerkmal ist es, das uns so viel Verantwortung bedeuten muss, denn es macht die Künstlerin zum Gedächtnis der Menschheit.

Deshalb fordere ich keineswegs, dass Kunst politisch sein muss, nur soviel: verantwortungsvoll. Ebenso wenig wie man unmöglich in einem Zustand permanenter geistiger Erregung verharren kann und darf, da er bei den meisten binnen kurzer Zeit zu einem Verlust der kreativen und geistigen Spannkraft führen würde, hat auch die “l’art pour l’art” ihre notwendige Daseinsberechtigung. Jedoch sind jene Kunstschaffende, die nur aus egoistischem Hedonismus, einzig für ihre persönliche Zufriedenheit und ihr materielles oder gesellschaftliches Fortkommen arbeiten, verantwortungslos. Döblin schrieb: “Die Mission […] kann heute nur sein dieselbe wie sonst: Kunstwerke hervorzubringen, hinter die man sich mit seinem Können, und seinem Gewissen stellt. Es gilt mehr als je, aufrichtig gegen sich selbst und mutig und hilfreich gegen andere zu sein.”4 Die mangelnde Integrität eines “Künstlers” ist beschämend und hat uns als Menetekel den rechten Weg zu weisen.

Wir wollen zusammenfassen: die Verantwortung der Künstler*innen besteht darin, dass sie ihrer Rolle als sinnlich und schöpferisch Tätige nachkommen, dass sie das mahnende Gewissen der Welt zu sein haben und dass sie ihre kulturellen und Identität stiftenden Erinnerungen zu bewahren haben. Auf den Künstler*innen ruht also nicht nur die Bürde, die Gegenwart zu prägen, sondern auch, Zukünftiges zu formen und zu gestalten.

Unter der Last dieser Verantwortung birgt sich jedoch stehts die Gefahr der Verführung und des Missbrauchs der künstlerischen Freiheit. Nicht zu spalten und gegeneinander auszuspielen ist deshalb unsere Aufgabe, sondern wo notwendig “J’accuse!” zu rufen, uns zu empören, zu protestieren, zu polemisieren, den gesellschaftlichen Diskurs zu befeuern, Zusammenhalt zu fördern und zu fordern; – um in Freiheit Kunstwerke erschaffen zu können.

Bemerkung: Im Singular wurde auf das Gendern zugunsten des Leseflusses verzichtet und abwechselnd die weibliche und die männliche Form verwendet. In jedem Fall sind jedoch sowohl männliche als auch weibliche und sich nicht durch das binäre Geschlechtssystem repräsentierte Menschen miteinbezogen.

Text: K. Elias Braun @kl.elias.braun
Illustration: Inga-Marie Ruxton @ingamarietekukwitha https://www.ruingatox.de/

1 K. Mann: Stellung nehmen!, in: Pariser Tageblatt, 12. Dezember 1934. -Der Beitrag erschien als Teil der Umfrage der Redaktion über “Die Mission des Dichter 1934”; neben K. Mann beteiligten sich B. Brecht, A. Döblin, L. Feuchtwanger, H. Mann, W. Mehring, R. Neumann und A. Zweig.
2 K. Mann: Lion Feuchtwanger fünfzig Jahre. Aus: Die Sammlung, Amsterdam, 1. Jg., Heft 11, Juli 1934.
3 A. Zweig: Deutung der Welt. in: Pariser Tageblatt, 12. Dezember 1934.
4 A. Döblin: Kommandierte Dichtung. in: Pariser Tageblatt, 12. Dezember 1934.

die Bedeutung für die Menschheitsgeschichte des antiken Athens mit der Spartas. In letzterem wurdedas gesamte Leben einer Militarisierung untergeordnet, die keinen Raum für kulturelle Entfaltung und geistigeEntwicklung zuließ, während uns aus Athen ein reicher Schatzphilosophischen, wissenschaftlichen und kulturellen Materials überliefert worden ist. Das 20. Jahrhundert hatzudemin zwölf schrecklichen Jahren bewiesen, wohin der Kampf gegen alles Geistige, alles Freie, alles Unabhängige führt, wohin Diktat und Kulturfeindlichkeit führen: in die unmenschlichste, in die industrialisierte Barbarei.