Audioversion
Am 28. April 2021 riefen soziale, politische und gewerkschaftliche Organisationen in Kolumbien einen Nationalstreik gegen die neue Steuerreform aus. Dieser hielt mehrere Monate an, bis er schließlich im September gewaltsam durch Polizei und Militär unterdrückt wurde. Die Auseinandersetzungen fanden statt, als ich gerade meine Masterarbeit schrieb und haben diese maßgeblich beeinflusst.
In meiner Masterarbeit „Tracing Nepantla“ habe ich mich aus einer räumlichen Perspektive dem Zwischenraumkonzept Nepantla angenähert. Nepantla ist ein indigenes Wort aus dem Nahuatl und bedeutet soviel wie „in der Mitte stehen“. Die queer-feministische Autorin und Denkerin Gloria Anzaldúa beschreibt in ihrem Buch Borderlands – La Frontera (1984) was es bedeutet, in einem Zwischenzustand zu leben, zwischen verschiedenen Identitäten, Orten und Zugehörigkeiten. Sie verwendete das Konzept von Nepantla, um diesen Zwischenraum zu beschreiben und formulierte dieses bis zu ihrem Tod weiter aus.
Anzaldúas Schreiben hat mir geholfen, mein eigenes Dazwischensein besser zu verstehen- als queere, migrantische Person of Color. Ziel meiner Arbeit war es, mich in Berlin auf die Suche nach Nepantla zu machen. Ich wollte die spürbaren und sichtbaren Ausprägungen von Nepantla nicht nur finden und identifizieren, sondern auch kartieren und aufzeichnen. So entstand, basierend auf meinem eigenen Erfahrungsraum, eine Reihe von Zeichnungen, die Räume meines Alltags aufzeigen.
Diese Zeichnungen sind der Versuch, sich diesen transnationalen Verbindungen anzunähern und vor allem zu untersuchen, wie sie im digitalen Raum spürbar wurden. Der Zwischenraum im Digitalen sozusagen. Ich fand es außerdem auch spannend zu sehen, was passiert, wenn etwas so flüchtiges, von Informationen überflutetes und schnelllebiges wie ein Instagram Feed mit analogen Mitteln festgehalten wird.
Die Beobachtung der Geschehnisse vor Ort aus der Ferne warf damals viele Fragen für mich auf. Ich war einerseits froh über die Aufmerksamkeit, die die politische Situation in Kolumbien plötzlich bekam, auf der anderen Seite war ich auch einfach überfordert mit der Menge an Informationen in meinem Feed.
5. Mai 2021
23:18: hab mich noch nie so disconnected zu Kolumbien gefühlt, gerade jetzt wo ich eigentlich mit meinen Gedanken ganz dort sein sollte (…) ich kriege es einfach nicht hin, (…) bei den ganzen Infos mitzuhalten. Ich habe das Gefühl, mein Gehirn ist nicht aufnahmefähig.
Seit ich nur denken kann, herrscht in Kolumbien Krieg und viele dieser Bilder waren schon immer Teil von meinem Leben. Ich könnte, wenn ich wollen würde, mich natürlich dafür entscheiden, nicht hinzuschauen und nicht darüber nachzudenken, aber das stellt für mich keine Option da. Es fühlt sich absurd an, zwischen Katzenvideos auch die Aufnahmen aus den Straßen Bogotás zu sehen. Die Geschehnisse vor Ort haben einen Einfluss auf mein Leben hier und ich denke, das ist etwas, womit sich viele in der Diaspora lebende Personen identifizieren können. Ich werde immer das, was dort passiert, mit mir tragen.
Die Ambivalenz, die das Leben im Zwischenraum mit sich bringt, das Leben zwischen zwei oder mehreren Orten, wird durch das Digitale etwas erleichtert und trotzdem auch durch diese Gleichzeitigkeit verstärkt. Auch wenn es schmerzvoll ist, aus der Ferne alles zu beobachten, ist es auch ein Privileg geographisch entfernt, weit weg von den Geschehnissen vor Ort zu sein. Etwas, was ich durch Anzaldúas schreiben erkennen konnte, war wie wir* aus dieser Zerrissenheit heraus, wenn die nötigen Ressourcen da sind, etwas entstehen lassen können. Als Antwort auf die Proteste in Kolumbien fanden im Laufe dieser ganzen Zeit verschiedene Aktionen der Solidarisierung statt. Es wurde zusammen gekocht, gestickt und protestiert. Es entstanden für kurze Momente Situationen oder Räume in der Stadt, die beide Orte zusammen brachten.
wir*: hier meine ich wir, die “Schwellenmenschen”, oder wie Anzaldúa sie bezeichnet: Nepantlerxs. Das sind Wesen, die in und zwischen mehreren Welten leben; durch schmerzhafte Verhandlungen entwickeln sie das, was Anzaldúa als „Perspektive aus den Rissen“ beschreibt. Sie nutzen diese veränderten Perspektiven, um Praktiken zu entwickeln, die es ihnen ermöglichen, die verschiedenen Welten, in denen sie leben, neu zu begreifen oder auf andere Weise zu verändern.
Liste an Ressourcen, die über Kolumbien aus Deutschland informieren, sowie Organisationen und politische Gruppen:
Instagram Accounts:
- Unidas por la Paz
- Kolumbienkampagne Berlin
- wasistloskolumbien
- colombiasolidariahh
- kolumbianischediaspora
Text und Bilder von Ana Rodriguez Bisbicus. Ana (alle Pronomen) ist in Kolumbien geboren und lebt zur Zeit in Berlin. Sie hat Architektur an der Universität der Künste Berlin und der Glasgow School of Arts in Schottland studiert. Ana arbeitet an der Schnittstelle von künstlerischer Forschung, Mapping und Architektur. Dabei beschäftigt sie sich u. a. mit diasporischen und queerfeministischen Räumen und der Verschränkung von Kolonialismus und Architektur/ Infrastrukturen. Seit 2019 ist sie Teil des fem_arc collective.