In einem Vortrag für UdK-Studierende beginnt Holzinger zu berichten, sie komme eher vom Sport, aber mit einer Aversion gegen Autoritäten sei Sport für sie keine Option gewesen. Zunächst wird sie von keiner Tanzschule angenommen, bis es dann in Amsterdam klappt. „Ich musste [nach der Uni] nie ein Casting besuchen“, erzählt sie weiter. Und „ich möchte ehrlich zu euch sein“, sie habe gegenüber der Presse auf die Frage, welche Rolle die Nacktheit bei ihr auf der Bühne spiele, bis dato immer gelogen. „When you are coming from a school where you’re told to do something out of nothing, it might be a good idea to take off your clothes, if you know what I mean.“
Sie lacht. „– because there is at least something to look at.“ Die konzeptionelle Entwicklung einer Außeinandersetzung mit Nacktheit und ihr ursprünglicher Impuls sich auszuziehen bildet also ersteinmal das altbekannte Erfolgsrezept „Sex Sells“ heute in einer neuen, vermarktungsstrategisch klugen, scheinbar feministischen Verpackung ab. Aufmerksamkeitsökonomie statt künstlerischer Ausdruck. Die Emanzipation von der Objektifizierung des weiblichen Körpers mündet, so gesehen, in eine sich gut vermarktende Mode.
Nacktheit scheint in Holzingers Arbeit ein Mittel zu sein, das durch seinen Gebrauch als Hingucker eine Akzeptanz gegenüber patriarchalen Spielregeln darstellt, anstatt sie in Frage zu stellen. Gingen wir als Publikum davon aus, es handle sich um eine Ironisierung des male gaze, bleibt eine Überwindung patriarchaler Erwartungen an den Frauenkörper bei dieser Betrachtungsweise unerfüllt. Womöglich werden sie sogar durch die ironische Überhöhung reproduziert und damit eher manifestiert als gebrochen.
Doch zu Recht wird Holzingers Arbeit als feministische Position rezipiert. Die Kategorie ‘Feminismus’ verhindert hier aber einen Diskurs über das Geschehen selbst. Der immer noch eher männlich geprägte Kulturjournalismus scheint Bammel zu haben, bei einer genaueren Stellungnahme eigene chauvinistische Muster aufzuzeigen. Es wird sich darauf geeinigt, das falsche Argument im Raum stehen zu lassen. “Ja, das ist Feminismus, das muss gut sein.”

Möchte man mit dem Konzept der nackten Frau* ein ironisches Bild von der objektifizierten Frau kreieren, ändert das nichts daran, dass alle Frauen nackt sind. Ironisch wäre es, wenn alle Spielenden Kittelschürzen mit aufgedruckten Abbildungen ihres nackten Körpers tragen würden. Worum geht es dann? Wenn die Nacktheit (u.a.) von Anfang an dazu geführt hat, dass Holzingers Inszenierungen ein begeistertes Publikum angezogen haben, weil, wie sie selbst sagt, “es wenigstens was zum gucken gibt”, dann erweisen die nackten Frauen sich als Waffen. Auf diese Weise erkämpft sie sich als Frau Aufmerksamkeit innerhalb eines patriarchal geprägten Systems und die Nacktheit verkümmert zum Nebenprodukt eines ganz geilen Styles.
Holzingers Fans sprechen von einer Entfremdung des Körperlichen, einem Akt der Befreiung. Sicherlich erfahren die Spielenden auf der Bühne eine Befreiung, wachsen über sich selbst hinaus und haben jedweden Grund für das, was sie tun, egal, was sie tun. Darin sehe ich ehrlich gesagt den Zweck der ganzen Geschichte. Eine Frau, die bereit ist, ihren Körper auf einer Bühne zur Schau zu stellen, besitzt Macht. Aber eben auch gegenüber denjenigen Frauen, die schlichtweg keine Lust haben, ihren Körper zum Gegenstand des Diskurses zu machen.
Auf einmal wird der Diskurs zu einem Machtkampf zwischen den Frauen, obwohl es doch eigentlich darum ging, diesen Kampf zu vergessen. Holzingers Nacktheit setzt diejenigen Frauen unter Druck, die von Casting zu Casting rennen und sich den Blicken geiler Männer aussetzen müssen. Sich auszuziehen sollte keine Lösung für dieses Problem sein. Das so nebenbei in einem Vortrag an Studierende zu richten, halte ich für unreflektiert. Ein Matrosinnen-Tanz im Kostüm wäre einfach nicht so interessant gewesen, oder? Ich denke eben nicht und da liegt das Problem.
Zugleich kommt mir eine scheinbar “neue” Bildproduktion durch Überhäufung von Klischees mit tabuisierten Zutaten (Blut, Kotze, Pisse, etc.) fast wie eine Beweihräucherung vor. Müssen wir uns wirklich an all den Dingen abarbeiten, die eine chauvinistische Kulturgeschichte hervorgebracht hat? Muss ich den Porno zitieren, um mich seiner zu entledigen? Warum gibt es da keine Suche nach neuen Bildern, die auch krass sind, aber eben nicht krass, weil irgendein Urinstinkt getriggert wird? Im Vergleich zu “A Divine Comedy” ist “Ophelia’s Got Talent” jedoch ein Theaterabend, der sich den Brüchen kultureller Gepflogenheiten nicht so sehr ausliefert.
Zwischen den Showeinlagen gibt es immer wieder Phasen, in denen Ruhe einkehrt, in denen die Spielenden sich auf der Bühne bewegen, als wäre es ihr Zuhause. Mit “Ophelia’s Got Talent” wird die Bühne gekapert und entfaltet sich zu einem Ort, an dem es auf einmal auch ok ist, einfach zu sein, ohne anzugeben, oder sich zu präsentieren. Und trotzdem werden die Erwartungen in “einer Show, in der alles passieren kann” durch die sich wiederholenden Ankündigungen des Unberechenbaren immer wieder aufs Neue hochgeschraubt, dass alles, was passiert, sich in der Schlinge eines Event-Charakters wiederfindet. Die Talentshow bleibt eine Talentshow. Der Theaterabend bleibt gute Unterhaltung.
Der Widerspruch, in dem ich mich befinde, lässt sich nicht bezwingen. Ich möchte mich ausziehen können, mich gleichwertig fühlen, dem Kaiser seine Klobrille teilen, mich der Rolle der Kleidung entledigen. Gleichzeitig möchte ich mich dem Blick der Männer und Frauen entziehen, möchte aufgrund meines Körpers nicht gewertet werden, möchte nicht als sexy empfunden werden, weil ich eine Vulva habe, sondern möchte sexy sein, weil man mich für clever hält. Mehr noch, möchte eine gemeinsame Ebene abseits der Sexualität finden, die eine Erotik innehat, die neben diesem körperlich Definierten und dadurch so schmerzhaft Eingerahmten steht.

Ich stelle also eine konkrete Frage: Liebe Florentina, kannst du mir all meine Angst nehmen, nicht genug zu sein, und mir versprechen, dass es kein Zurück mehr gibt, aber auch keines, wo man hin will, wenn man begonnen hat, den Körper selbst nicht mehr als Ware zu betrachten, davon abgesehen, ob es andere immer noch tun oder nicht, sondern ihn so unaufgeregt wie möglich, natürlich sein zu lassen, sodass ich mir den romantischen Zauber eines nackten Körpers auch nicht zurück wünsche?
Am 14. Mai, pünktlich zum Theatertreffen ziehe ich mich auf der Toilette der Volksbühne unten rum aus, Schuhe und Socken, sowie ein langärmliges Hemd behalte ich an, darüber den beigen Wollmantel und meine Handtasche. Etwas aufgeregt bin ich schon und finde beim Kauf eines Aperol Spritz mein Bargeld nicht auf Anhieb. 50 Euro hatte ich abgehoben und erzähle halb der Barkeeperin halb mir selbst, dass es doch nicht sein könne, dass ich es fertig gebracht hätte, die 50 Euro schon wieder ausgegeben zu haben. Mit dem Aperol gehe ich zur Garderobe und gebe meinen Mantel ab.
Es ist frisch ohne Hose. Die Garderobiere lächelt mir zu. Es ist nicht so, dass ihr Blick wandert, sie blickt mir in die Augen. Ich schaue mich nicht nach weiteren Reaktionen um, weil ich ja so tue, als wäre es das normalste der Welt, dass ich nackig bin. Natürlich bin ich mir der Aufmerksamkeit, die mir geschenkt wird, bewusst, aber es ist nicht so, dass ich aufgeregt bin, weil ich nackt bin. Ich bin aufgeregt, weil ich plötzlich im Mittelpunkt stehe. Eine zu erwartende Verletzlichkeit bleibt aus. Ich bin froh, nackt zu sein, jede meiner Bewegungen ist gesetzt, ich spüre meine Anwesenheit stärker als sonst, ich bin wirklich. Der Stuhl, auf den ich mich setze, ist echt.
Wie zu erwarten, reagiert das Theaterpublikum nicht auf meine Aktion. Niemand kann mir etwas anhaben und ich denke, dass es an der Volksbühne liegt, dass ich mich auch nackt dort wohl fühlen kann. In der U-Bahn wäre das etwas Anderes gewesen. Deswegen ist es auch nicht radikal, auf der großen Bühne nackt zu sein. Die große Bühne fordert wahrscheinlich eher, dass auf ihr aus der Bibel gelesen wird. Das wäre radikal in dem Kontext. Als ich nackt im Zuschauerraum sitze, erscheinen mir die Attraktionen der Show nicht mehr angeberisch. Stattdessen höre ich den Schmerz der Spielenden, einen Schrei nach Überwindung ihrer körperlichen Verletzlichkeit. Zuhause angekommen fühle ich mich erleichtert.
Solange Kunst nicht vom Markt zu trennen ist, wird die Aufmerksamkeit denjenigen geschenkt, die sich den ökonomischen Aufmerksamkeitsregeln unterstellen, sie ausnutzen bzw. bedienen. Anstatt blind dem Hype um Holzinger zu folgen, frage ich mich, ob ihre Arbeit nicht eigentlich aufzeigt, auf welchem Niveau der sogenannte Regienachwuchs der großen Theaterhäuser gerade so herumlungert. Kurz: Holzingers Arbeit scheint gerade deswegen so herausragend, weil der Rest eben Schrott ist, ein paar wenige Ausnahmen ausgenommen. Und trotzdem lieben wir alle diese Einfachheit. Wir lieben den Pop, die unbeschwerte Unterhaltung. Wir wollen weinen und lachen und furzen und tanzen. Wir wollen fliegen, so wie Holzinger in ihrem Vortrag sagt, „der Ursprung des Tanzens“.
* bzw. weiblich gelesenen Personen
Hannah Rumstedt arbeitet als Regisseurin, Autorin, Performerin, Kamerafrau und Bildende Künstlerin. 2017 gründete sie zusammen mit anderen Akteur*innen der Volksbühnenbesetzung das NIE Theater, engagiert sich seit 2019 als Pioniernutzerin und arbeitet ehrenamtlich an der konzeptionellen Entwicklung der künftigen Spielstätte im Haus der Statistik.