Sehr geehrter Philipp Hübl,
wir schreiben Ihnen wegen Ihres Radiobeitrags bei Deutschlandfunk, “Struktureller Rassismus: Ein irreführender Begriff”, welcher am 21. März 2021 zum Internationalen Tag gegen Rassismus erschienen ist. Wir, die studentische Initiative I.D.A. und Mitstreiter:innen, möchten in diesem offenen Brief dazu Stellung beziehen.
In Ihrem Beitrag gehen Sie auf den Begriff “Struktureller Rassismus” ein und präsentieren ein Plädoyer, dass dieser “diffus” und “ominös” sei. Dem widersprechen wir vehement: Struktureller Rassismus ist ein klar definierter und wichtiger Begriff, um ein Problem zu benennen, welches sich durch unsere Gesellschaft zieht. Es geht nicht darum, dass jede weiße Person im Extremfall Rassist:in sei, wie Sie überspitzt hypothetisieren. Rassismus ist keine bloße individuelle Einstellung, sondern ein Gefüge und Zusammenspiel von historisch und gesellschaftlich verorteter Diskriminierung. Struktureller Rassismus beschreibt nicht nur “Einzelfälle”, sondern systemische Muster und ihre Kausalitäten.
Ihre Perspektive stellt keine neutrale Sicht auf das Problem dar, präsentiert sich aber als solche. Zu keinem Zeitpunkt gehen Sie auf Studien zu den Folgen sowie dem Verständnis von (strukturellem) Rassismus von betroffenen PoC in Deutschland ein. Sie als Unbetroffener versuchen an keiner Stelle, sich in andere hineinzuversetzen. Stattdessen handelt es sich bei Ihrem Kommentar um eine reine Verteidigung Ihres eigenen Standes (“[…]im Mittel sozioökonomisch bessergestellt […]als eine nicht-weiße oder zugewanderte Minderheit”). Sie gehen davon aus, dass es in Diskursen um strukturellen Rassismus um das reine Ausschimpfen von Weißen als “Dauerprofiteure” gehe. Stattdessen haben diese Diskurse im ersten Schritt zum Ziel, Ungerechtigkeiten anzuerkennen, um in Folgeschritten daran etwas zu ändern. Den Rassismusbegriff als Angriff zu verstehen ist ein typischer Fehlschluss von Unbetroffenen.
Wir kritisieren auch die Methodik, mit welcher Sie zu diesem Fehlschluss gelangt sind. Die von Ihnen herangezogene Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes z. B. merkt selber an, dass ihre Ergebnisse stark von anderen Umfragen abweichen. (Zur genaueren wissenschaftsmethodischen Beanstandung s. auch:https://criticaldiversity.udk-berlin.de/en/empirieundstruktur)
Dass Sie diese Anmerkung auslassen, bewerten wir als problematisches Cherry-Picking.
In Ihrem Beitrag versuchen Sie ferner, Rassismus zu analysieren, doch Ihre Analyse fällt zu kurz und oberflächlich aus. Dies erkennt man z. B. in der Passage “Richtig ist: Menschen mit Migrationsgeschichte sind am Arbeitsmarkt unterrepräsentiert. Ein Faktor (PDF) beim Zugang zum Arbeitsmarkt ist dabei rassistische Diskriminierung, wie Studien zeigen. Andere Faktoren (PDF) sind aber Sprachkenntnisse, Bildung und ein Freundeskreis in der Mehrheitsgesellschaft”. Die Faktoren Sprachkenntnisse, Bildung und “ein Freundeskreis in der Mehrheitsgesellschaft” (eine in sich bereits problematische Hypothese) werden jedoch ebenfalls von strukturellem Rassismus berührt, z. B. wenn PoC-Kindern aufgrund von unbewussten Vorurteilen keine Gymnasialempfehlung gegeben wird. Die sogenannten “anderen Faktoren” hängen ebenfalls mit rassistischer Diskriminierung zusammen und ergeben erst in ihrer Gesamtmenge das Netz des strukturellen Rassismus.
Sie ziehen diese Fehlschlüsse, weil Sie versuchen, Rassismus auf Individuen zu beschränken, statt die Gesellschaft und ihre Strukturen miteinzubeziehen.
Das Thema Rassismus anhand der Anzahl von Morden anzugehen, ist ebenfalls höchst problematisch, um nicht zu sagen erniedrigend. Damit verharmlosen Sie alle Rassismuserfahrungen jenseits gezielter Tötung. Ignoriert werden alle Umstände sowie Mikroaggressionen, die überhaupt zum Mord führen und – wir wiederholen – in ihrer Gesamtmenge die Rassismuserfahrung bilden. In Ihrer gesamten Argumentation räumen Sie der alltäglichen menschlichen Erfahrung keinen Platz ein. Sie reduzieren Rassismus somit auf seine gewaltvollsten Extreme, obwohl dieser schon viel früher beginnt.
Zu guter Letzt empfinden wir es als schlicht taktlos, diesen Beitrag zum Internationalen Tag gegen Rassismus zu veröffentlichen; Ein Tag, dessen Ziel es ist, POC-Stimmen zuzuhören und auf Rassismus hinzuweisen. Sie als unbetroffene Person nehmen an diesem Tag Platz ein, der auch einer von Rassismus betroffenen Person hätte eingeräumt werden können. Sie nutzen ausgerechnet an diesem Tag die öffentliche Plattform und Reichweite des Deutschlandfunks, um Rassismus kleinzureden (Silencing).
Wir fragen uns an dieser Stelle: Was bezwecken Sie eigentlich mit Ihrem Kommentar?
Ihr Plädoyer verneint die Existenz einer Form von Rassismus. Es besteht der Anspruch, dass Zuhörer:innen bzw. Leser:innen infolgedessen – so wie Sie – die Validität von strukturellem Rassismus anzweifeln oder ganz verneinen. Weshalb war am Internationalen Tag gegen Rassismus Ihr erster Gedanke, Rassismus zu verneinen?
“Warum also reden wir mehr über Rassismus?”, fragen Sie.
Wir stellen Ihnen nun eine Gegenfrage: Warum reden wir erst jetzt mehr darüber?
Unterzeichnet von:
Studentische Initiative I.D.A.
AStA der Universität der Künste Berlin
Common Ground UdK Berlin
Interflugs
FSR Architektur UdK Berlin
FSR Bildende Kunst UdK Berlin
FSR Bildende Kunst Lehramt UdK Berlin
FSR Darstellende Künste UdK Berlin
FSR Design UdK Berlin
FSR GWK UdK Berlin
Klasse Klima
StuPa-Ausschuss für Gleichstellung und Soziales UdK Berlin
StuPa-Ausschuss für Antidiskriminierung, Interkulturelle Diversität und Empowerment UdK Berlin
Juana Awad, Wissenschaftliche Koordination DFG-Graduiertenkolleg “Das Wissen der Künste”, UdK Berlin
Sandra Bayer, Koordinatorin „Interkulturelle Diversität“, International Office UdK Berlin
Livia Romero, International Office UdK Berlin
Sophia Marx, Studentische Mitarbeiterin International Office UdK Berlin
Jörgen Roggenkamp, Vorsitzender des Studierendenparlaments UdK Berlin
Mengna Tan, Studierende BK UdK Berlin
Laura Lutz, Studierende GWK UdK Berlin
Jasmin Darr, Studierende GWK UdK Berlin
Nora Rennert, Studierende GWK UdK Berlin
Nastassja Weidknecht, Studierende GWK UdK Berlin
Louis Frank, Studierende GWK UdK Berlin
Hannah Kluge, Studierende Visuelle Kommunikation UdK Berlin
Jana Schütt, Studierende Master GWK UdK Berlin
Mathilde Stübner, Studierende GWK UdK Berlin
Meta Friedrich, Studierende GWK UdK Berlin
Aline Hafermaas, Studierende GWK UdK Berlin
Clara Bidemar, Tutorin UdK Berlin
AStA der FU
Anmerkung der Redaktion:
Wir möchten darauf hinweisen, dass Philipp Hübl den Offenen Brief der studentischen Initiative I.D.A beantwortet und um Veröffentlichung seiner Antwort gebeten hat. Als Studierendenmagazin des AStA der UdK Berlin verstehen wir uns als Plattform und Sprachrohr von Studierenden für Studierende, die oftmals selbst von Rassismus betroffen sind. Wir sind der Auffassung, dass Philipp Hübl aufgrund seiner Position als Lehrender über andere Möglichkeiten verfügt, seine Antwort zu publizieren. Sollte er dies tun, werden wir sie hier gerne verlinken.
Vorerst möchten wir an dieser Stelle auf den Briefwechsel zwischen Henrike Lehnguth/Kathrin Peters und Philipp Hübl aufmerksam machen, der auf dem Critical Diversity Blog zu finden ist, in welchem Hübls Position in weiten Teilen der Antwort auf den Offenen Brief von I.D.A entspricht: https://criticaldiversity.udk-berlin.de/empirieundstruktur/