Vor einem Jahr schrieb ich diesen Text, um die damalige COVID-Situation besser zu verstehen. Ich vertiefte mich in Geschichten, die ich von Künstler*innen und Aktivist*innen zu Beginn der AIDS-Pandemie in den USA in den 80er Jahren kannte und schätzte. Dies löste teils sehr unterschiedliche Emotionen bei mir aus.
Einerseits empfand ich eine große Hilflosigkeit und Wut auf Regierungen und ihre Gesundheitspolitik, die die Epidemie auf struktureller Ebene falsch handhabten, und über die Folgen, die dies für mich und die Menschen um mich herum hatte. Andererseits ermutigte mich der Rückblick aber auch, da künstlerische Interventionen die öffentliche Gesundheitspolitik in der Vergangenheit tatsächlich erfolgreich verändert hatten. Es war ärgerlich zu lesen, wie wenig sich die US-Regierung zu Beginn der AIDS-Krise gekümmert hatte, und eine Erinnerung daran, dass wir uns nicht auf diese Systeme verlassen können: am Ende des Tages haben wir nur uns selbst. Es war wiederum erleichternd zu erfahren, wieviele Künstler*innen in der Welt COVID auch jetzt noch thematisieren, obwohl die meisten Regierungen und Arbeitgeber so tun, als sei es vorbei.
SILENCE=DEATH: die AIDS-Epidemie und politische Kunst in den 80ern
Künstler*innen und Aktivist*innen waren mitunter die ersten, die auf die damals neuartige Erkrankung Autoimmune Deficiency Syndrome (AIDS) reagierten. Obwohl der erste Fall in Nordamerika bereits 1981 publik gemacht wurde, wurde AIDS erst 1987 öffentlich vom damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan anerkannt. Bis dahin waren schon mehr als 40.000 Personen an AIDS gestorben. Dennoch machte das AIDS-Forschungsbudget nur einen Bruchteil davon aus, was die US-Regierung für Erkrankungen ausgab, die viel weniger gefährlich waren.1
Der Ausbruch der Pandemie traf i.v.-Drogenkonsument*innen sowie schwule und bisexuelle Männer besonders stark; marginalisierte Communities, die schon vor der Pandemie aktiv vom US-Gesundheitssystem ausgeschlossen wurden.2 Die daraus resultierende Wut und Hilflosigkeit werden in diesem Redebeitrag von Vito Russo, einem Gründer des aktivistischen Kollektivs AIDS Coalition to Fight Power (ACT UP), aus dem Jahr 1988 deutlich: „Wenn ich an etwas sterbe, dann sterbe ich an der Tatsache, dass nicht genug reiche, weiße heterosexuelle Männer an AIDS erkrankt sind, als dass irgendjemand einen Scheiß darauf gibt.“3 Für die Betroffenen war klar, dass sie die Sache selbst in die Hand nehmen mussten.
Eine lebenswichtige Rolle, die die Regierung nicht erfüllte, war das Vorantreiben von sorgfältiger Aufklärung über die Übertragungswege des HI-Virus.4 Zum Beispiel waren Aktivist*innen entsetzt, als der New Yorker Bürgermeister sich seine Hände sofort wusch, nachdem er einer Person mit AIDS einen Keks gegeben hatte.4 Als Reaktion auf fehlende politische Maßnahmen gründeten schwule* Aktivist*innen ihre eigenen Gesundheits-, Unterstützungs- und Erziehungs-Gruppen, um Aufklärungsarbeit zu leisten. Diese waren jedoch meist illegal, weil sie angeblich Homosexualität ermutigten und Informationen darüber verbreiteten.2
Das Kollektiv Gran Fury reagierte hierauf 1989 mit der politischen Kunstaktion Kissing Doesn’t Kill. In Eigeninitiative hängten sie Plakate in Verkehrsmitteln auf und verschickten Postkarten, hauptsächlich in New York City. Auf den Werken stand: „Unternehmensgier, staatliches Nicht-Handeln und öffentliche Apathie machen AIDS zu einer politischen Krise“.5 Diese künstlerische Arbeit prangerte nicht nur die Gleichgültigkeit des Gesundheitssystem gegenüber dem Massensterben an, sie sendete darüber hinaus eine notwendige Botschaft, die während der ersten Jahre der AIDS-Krise für viele unklar war: durch Küsse oder Berührungen alleine ist HIV nicht übertragbar. Mit dieser Kampagne schuf das Kollektiv ein öffentliches Bewusstsein für diese Botschaften.
Ziel des bereits erwähnten Kollektivs ACT UP war es, medizinisch fundierte Informationen über AIDS zu erforschen und öffentlich zu machen. Auch ihnen dienten Kunst-Aktionen als Strategie. Am bekanntesten sind ihre Die Ins, bei der eine große Anzahl von Aktivist*innen zu einem bestimmten Ort gehen und leblos auf dem Boden liegen. 1988 fand vor der Zentrale der Food and Drug Administration (die US-amerikanischeInstitution für die Genehmigung von Medikamenten und Lebensmitteln) ein Die In statt, dessen Ziel es war, auf das Versagen der Regierung, ein Medikament gegen AIDS zu genehmigen, aufmerksam zu machen.6
Auf den selbstgemachten Grabsteinen der Aktivist*innen stand beispielsweise: „Tot. Als Person of Color war ich von Medikamentenstudien ausgeschlossen“ oder: „Ich habe das Placebo bekommen“.4 Indem die bei der FDA Zuständigen die schlaffen, unbeweglichen Körper von ihrem Grundstück entfernen mussten, „zwang [ACT UP] Institutionen Verantwortung für die AIDS-Todesfälle zu übernehmen“.6 Innerhalb von Monaten nach diesem Die In und der Veröffentlichung der Forderungen von ACT UP hatte die FDA ihre Genehmigungsprozesse beschleunigt.4
BLEIBT GESUND: Kunst und COVID im Jahr 2020
Im Vergleich zum ersten Jahr der AIDS-Pandemie gab es zu Beginn von COVID innerhalb kürzester Zeit eine Flut öffentlicher Kunst. Dies mag an der deutlich höheren Sterblichkeit durch COVID liegen: In den ersten beiden Jahren nach dem initialen AIDS-Ausbruch in Nordamerika gab es weniger als 1.000 Todesfälle im Gegensatz zu den mehr als 4.000.000 COVID-Todesfällen, die es weltweit bis heute gibt. [Hinweis: 2022 liegt diese Zahl bei über 6.500.000.]7 Die von Russo erwähnten „reichen, weißen heterosexuellen Männer“ sterben in so großer Zahl an COVID, dass Regierungen weltweit augenscheinlich schneller und sorgfältiger auf COVID als auf AIDS reagiert haben. Trotzdem sind marginalisierte Communities viel stärker von COVID betroffen als der Rest der Bevölkerung.8
Ein Kunstwerk, das diese Ungleichheit anspricht, ist Pierre Lovings und Carrie Mae Weems Resist COVID/Take 6!, eine öffentliche Aufklärungskampagne aus dem Jahr 2020. Zur Vermittlung ihrer politischen Botschaft nutzten sie Werbetafeln und Plakatwände: „COVID-19 ist kein Virus der Chancengleichheit, es ist eine doppelte Tragödie für Communities von People of Color“.8 Die Zielgruppe der Kampagne sind „Black, Brown und Native American“ Communities, die vom Gesundheitssystem oft ausgeschlossen sind. Die Kampagne soll sechs Gesundheitsrichtlinien verbreiten, darunter sind „zuhause bleiben“ und „Hände waschen“, und bittet die Leser*innen, die Botschaft weiter zu verbreiten.8 In Anlehnung an das Gran Fury-Kollektiv nennen Lovings und Weems Diskriminierung explizit als einen Faktor innerhalb der Gesundheitspolitik und sind der Meinung, dass man sich sich selbst um die Gesundheit seiner Communities sorgen muss. In Kontrast zu Gran Furys systemischer Kritik sieht die Resist COVID/Take 6! Kampagne allerdings die Verantwortung, diese Todesfälle zu vermeiden, bei der Einzelperson und stellt keine direkten Forderungen an die Gesundheitspolitik.
Eine poetische und mehrdeutige Performance, die an ACT UPs Die Ins erinnert, ist Marcha a Ré des Teatro da Vertigems, eine öffentliche Performance, die in der Avenida Paulista im Bankenviertel von São Paulo stattfand. Ein Begräbniszug mit 120 Autos bahnt sich im Rückwärtsgang den Weg durch die sieben Kilometer lange Strecke Richtung Friedhof Consolação.9 Die Arbeit beschäftigt sich mit der Nekropolitik des rechtsextremen populistischen Regimes in Brasilien.Mit der Avenida Paulista wurde ein symbolträchtiger Ort gewählt, „wo seit 2013 zunehmend Demonstrationen der Rechten und Rechtsextremen stattfinden“.9 Der Theatergruppe stellte sich hier die besondere Herausforderung, Hygienemaßnahmen einzuführen und das Publikum und die Performer*innen zu schützen. Dies ist laut Teatro da Vertigem „allein schon eine Form des Protests ist, denn in Brasilien werden diese in weiten Teilen, bis hin zum Präsidenten, ignoriert“.9 Diese poetische, trauernde Methodik macht die Botschaft, dass die Regierungspolitik die Schuld trägt, umso deutlicher. Auf künstlerische Weise fordert die Performance Menschen ebenso dazu auf, sich den politischen Charakter ihrer Trauer vor Augen zu halten.
All we have is each other: Fazit
Zwar stellen Massenmedien die künstlerische Reaktion auf AIDS tendenziell als einheitliche, radikale politische Vision dar, doch gab es tatsächlich eine Diversität an Strategien, die von Künstler*innen und Aktivist*innen in den ersten Jahren der Pandemie genutzt wurden. Beispielsweise gab es zu Beginnstark auf Individuen ausgerichtete Kampagnen innerhalb queerer Communities. Dies waren etwa Kampagnen für Monogamie und gegen Badehäuser.2
Auf Individuen zentrierte Arbeiten haben greifbare und unmittelbare Resultate, z.B. schaffen sie bezüglich COVID mehr Bewusstsein für das Tragen einer Maske. Sie können aber auch davon ablenken, dem System den Kampf anzusagen, was wiederum die Verbreitung des Virus überhaupt ermöglicht. Der Unwillen der Regierung, Geld für Lockdowns auszugeben, ist nur ein Beispiel hierfür. Der Fokus auf das Individuum, welches eine Infektion vermeiden soll, kann außerdem Scham und Stigma für diejenigen erhöhen, die mit einer Infektion leben, ähnlich wie es bei AIDS der Fall war.10
Unabhängig davon ist bedauerlicherweise klar, dass „Unternehmensgier und staatliches Nicht-Handeln“ immer noch eine Leerstelle innerhalb gesundheitspolitischer Botschaften und gerechter Gesundheitspolitik schaffen, welche Künstler*innen und Aktivist*innen zu füllen haben. Obwohl sich die Strategien in der Post-Internet Ära geändert haben, bleibt die fehlende Initiative der Regierungen eine Konstante. Es ist erwähnenswert, dass keine der Arbeiten, die ich vorgestellt habe, von einem*einer einzigen Künstler*in geschaffen wurde und meines Erachtens die erfolgreichsten unter ihnen von Kollektiven stammen. Einige der Kollektive dienen auch als Selbsthilfegruppen und Räume der Heilung für ihre Mitglieder, von denen die meisten direkt von Krankheiten betroffen waren (siehe auch: Covid-19 Bereaved Families for Justice Memorial Wall.)11 Vielleicht gelingt es ihnen deshalb, den Fokus des Diskurses dorthin zu richten, wo er sein sollte: auf die Vermeidung von Todesfällen und Infektionen.
Als dieser Beitrag vor einem Jahr entstanden ist, hatte ich gehofft, dass es im Jahr 2022 noch mehr Kunstbewegungen für gesundheitliche Gerechtigkeit im Zusammenhang mit COVID geben würde. Die Zeit drängt: Wie immer deutlicher wird, wird COVID in naher Zukunft nicht verschwinden. Es ist nicht fair, dass Künstler*innengruppen diese Verantwortung übernehmen müssen, aber ich bin froh, dass sie hier sind um sich um uns zu kümmern, wenn Regierungen dazu nicht gewillt sind. Jetzt haben wir noch die Möglichkeit, für gesundheitliche Gerechtigkeit zu kämpfen, und zwar auf die Art und Weise, die mir am effektivsten erscheint: indem wir uns umeinander kümmern.
Quellen
1. Aizenman, Nurith. How To Demand A Medical Breakthrough: Lessons From The AIDS Fight. National Public Radio – npr.org. 2019.
2. Shilts, Randy. And the Band Played On: Politics, People, and the AIDS Epidemic. St Martin’s Press. 1987.
3. ACT UP: AIDS Coalition To Unleash Power. actupny.org. 1994. [Übersetzt von der Autorin].
4. Carr, Cynthia. Fire in the Belly: The Life and Times of David Wojnarowicz. Bloomsbury USA 2012.
5. New York Public Library Digital Collections. Items: Kissing Doesn’t Kill – digital collection s.nypl.org. 2021. [Übersetzt von der Autorin].
6. Montalvo, David. How AIDS Activists Used ‘Die-Ins’ to Demand Attention to the Growing Epidemic – history.com. 2021. [Übersetzt von der Autorin].
7. Wikipedia. COVID-19 pandemic data: wikipedia.org. 2021.
8. Weems, Carrie Mae und Loving, Pierre. Resist COVID/Take 6!. Öffentliche Awareness-Kampagne – resistcovidtake6.org. 2020.
9. Orlandi, A. P. (2020, October). Kunst als Protest: Widerstand in Zeiten der Isolation. goethe.de.
10. Valdiserri, Ronald. HIV/AIDS Stigma: An Impediment to Public Health. American Journal of Public Health. 2001.
11. Lynskey, Dorian. Wall of love: the incredible story behind the national Covid memorial. The Guardian – thegardian.com. 2021.
Übersetzung und Korrektur von Elena Dorn und Theo Grabow.
Text von Frances Breden. Frances Breden ist Kuratorin und Künstlerin und widmet sich dem gemeinschaftsorientierten und kollektiven Kunstschaffen in digitalen und IRL-Räumen. Seit 2014 ist sie Teil des queer-feministischen Kunstkollektivs COVEN BERLIN. Frances ist Gründungsmitglied der Sickness Affinity Group, einem Kollektiv, das Unterstützung zu den Themen Barrierefreiheit, Behinderung und Krankheit anbietet. Derzeit studiert sie im Master Kunst im Kontext an der UdK Berlin, wo sie auch redaktionelle Leiterin des Studierendenmagazins eigenart ist. 2023 kuratiert sie erneut das Kurzfilmprogramm PRESENTS. Ihre Texte sind u.a. in Radicalizing Care (Sternberg Press), Kunstforum #279, Crip Magazine und Arts of the Working Class erschienen.