Essay

Der gute alte Alltags-Sexismus – ein Eingeständnis

Von papercuts, dem kleinen Freund der Routine und Zähneknirschen bei Gruppenarbeiten – ein Eingeständnis, dass Alltags-Sexismus nicht “okay” ist.

Photo: Sevasti Giannitsi
instagram.com/sevasti.giannitsi/

Diskussionen um die Gender Pay Gap – immer wieder mal da, aber irgendwie auch nicht so richtig, da sie bislang eher die Unterschiede in der Bezahlung zwischen den Geschlechtern aufweist, als sie auszubügeln. Auch wenn die Gender Pay Gap in Deutschland in den letzten Jahren „leicht zurückgegangen“ sei, verdienen Frauen* pro Arbeitsstunde noch immer durchschnittlich 21 Prozent weniger als Männer.* Durch die Einführung des Mindestlohns, fielen die unteren Löhne deutlich höher aus, sodass zwar der Gender Pay Gap geringer ausfällt, jedoch verdient jede vierte Frau*, im Gegensatz zu jedem siebten Mann*, trotz einer Vollzeitbeschäftigung, im Monat weniger als 2.000 Euro brutto. Dabei darf nicht vergessen werden, dass immerhin 30 Prozent Frauen* gegenüber der 19 Prozent im Niedriglohnsektor tätig sind. 

Neben Boys-Clubs in der Wirtschaft, dem mittelalten weißen Mann, der sich auf der ganzen Welt verteilt wieder findet, scheinen sich die Gattungen Manspreading (als Mann sehr breitbeinig und sehr defensiv in öffentlichen Verkehrsmitteln sitzen)  und Mansplainer  (als Mann ungefragt Dinge erklären, von denen er öfters weniger Ahnung hat) in friedlicher Koexistenz wiederzufinden (wie in zahlreichen Google-Bilder-Suchen, U-Bahn-Fahrten, Gruppenarbeiten, … die Liste ist lang). 

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Das Berufsleben, abgesehen von Nebenjobs, scheint für mich, wie auch viele andere Studierende noch weit entfernt und Mansplainer mag man noch gerne hinnehmen, wenn es lediglich darum geht, einen Kurs unbenotet mit dem wenigstens Aufwand bestehen zu können. Aber der kleine Freund der Routine wartet auch in den zähen Stunden, irgendwo zwischen Studieren und Nebenjob. Irgendwo auf dem Weg zur Uni, am Küchentisch einer WG, auf Partys, im Späti. Irgendwo zwischen ungefragten Belehrungen auf der Straße, bewertenden Kommentaren zur äußeren Erscheinung, im Kühlregal auf mit “kecken” Sprüchen bedruckten Smoothies in Glasflaschen, auf den vielen schön traurig gestalteten City Light-Kampagnen an Bahnhöfen, auf denen mit unzähligen halbnackten Frauen, die im Übrigen kein Abitur benötigten, wahlweise für Frischfleisch oder Fahrgestelle geworben wird. 

Ist das “normal” oder kann das weg?

Er wartet am Anfang vielleicht nur nachts an der Ecke, während man mit dem Hausschlüssel in der Hand festhaltend, von einer Party nach Hause läuft. Vielleicht im Club oder auf der WG-Feier, wenn das „Nein“ mal wieder bei der lauten Musik und den vielen bunten Lichtern schlichtweg überhört und übersehen wurde. Vielleicht rückt er in der U-Bahn auch einfach so nah ran, dass sich die Außenseiten der Oberschenkel berühren. Vielleicht hat er dir schon mal auf der Arbeit erklärt, dass man das ja nicht wissen könne, so als Frau*. Oder eine Situation wurde damit abgetan, dass das ja ganz typisch für einen Mann* wäre. Vielleicht tritt er zu Anfang nur ab und an, kaum bemerkbar, durch ein Schulterzucken schnell abgetane “Freund” auf. Vielleicht braucht er auch noch den einen oder anderen Artikel, das ein oder andere Buch, Seminar oder Referatsthema, das ein oder andere Gespräch, so war das zumindest bei mir, bis auffällt, dass der vorab kleine Freund, nicht nur ab und an mal zu Besuch kommt, sondern eigentlich wie ein treuer Begleiter schon immer da war: er, der gute alte Alltags-Sexismus.

Und plötzlich ist „das Private politisch“; der zentrale Slogan der Frauenbewegung, die damit versucht eine zwischenmenschliche Angelegenheit auf eine gesellschaftliche Ebene zu heben, um Verhaltensweisen, die vorher als „normal“ galten, nun auch als das zu benennen, was sie schon immer waren: sexistisch und frauenfeindlich.

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Alles so einfach und so schön

Ich weiß nicht mehr, wann es bei mir anfing mir darüber Gedanken zu machen – wann ich Feminismus nicht mehr zu komplex fand, ab wann Emanze kein Schimpfwort mehr für mich war und ich anfing, viele meiner Handlungen sowie Situationen, in die ich geworfen wurde, zu reflektieren. Es brauchte viele Artikel und viele Bücher, bis ich zum Beispiel verstand, was #metoo eigentlich wollte.
Unter #metoo schilderten Frauen* ab Oktober 2017 ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung und sexuellen Übergriffen. Stichwort Harvey Weinstein… Ein anderes Beispiel: unter #aufschrei wurden ab Januar 2013 sexistische Übergriffe, Witze und Kommentare von Männern* gegenüber Frauen* gesammelt. Da dieser Hashtag es schaffte, medienwirksam und in der Politik thematisiert zu werden, gewann er damals den Grimme Preis. Viele Frauen* konnten über ihre Erlebnisse berichten, ihnen wurde zugehört, sie wurden wahrgenommen.

Gemeinsam haben beide Phrasen, dass sie vor allem das Ausmaß aufzeigen, die Ungerechtigkeit im Alltäglichen und die Existenz ungerechter Machtverhältnisse, die sich auf das Geschlecht begründen. Dass solche Themen nicht mehr unter den Tisch fallen oder mit einem Schulterzucken wettgemacht werden. Dass sowohl Männer* als vor allem auch Frauen* gegenüber Alltagssexismus sensibilisiert werden, da sie endlich einen öffentlichkeitswirksamen Raum finden und gehört werden können. Das klingt alles so einfach und so schön. Auch wenn es Frauen* mittlerweile erlaubt ist, an Universitäten nicht nur zu studieren, sondern auch den Rasen zu betreten, anders als der Protagonistin Maria in Virginia Woolfs „Ein Zimmer für sich allein“, treffen sie nicht nur im Berufsleben, sondern auch an der Universität auf sexistische, übergriffige und meistens auch diskriminierende Bemerkungen.

Und immer wieder fragt man sich dann: war das denn jetzt wirklich so schlimm? War es nicht nur ein unglücklich formulierter Witz, ein schlecht gemachtes Kompliment? Vielleicht habe ich das ganze ja auch falsch verstanden?

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Wo fängt Sexismus an und wo hört er auf?

Die Grenzen scheinen fließend. Vielleicht hilft es aber zu sagen: Sexismus fängt überall dort an, wo ein Geschlecht abgewertet, herabgewürdigt und Machtstrukturen ausgenutzt werden, überall dort, wo beleidigt und bedrängt wird, verbal und nonverbal, aufgrund der jeweiligen Geschlechtszugehörigkeit oder -orientierung. Mit 44 Prozent aller Frauen und 32 Prozent aller Männer, die sich sexistischen Angriffen gegenüber ihrer Person konfrontiert sehen, ist das nicht nur ein Phänomen, das ausschließlich auf Frauen* reduziert werden kann, es ist vor allem ein großes Problem, wenn wir bedenken, dass wir zur Zeit in Deutschland etwa eine binäre Gleichverteilung der Geschlechter (m/w) haben. Sexismus wird in unterschiedlichen Formen wahrgenommen und differenziert, findet gegenüber konkreten Personen durch Unbekannte, Bekannte und Freunde sowie Angehörige statt, medial, strukturell. Nach einer Studie des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, kurz Bmfsfj, findet Sexismus  mit 46 Prozent am häufigsten an öffentlichen Plätzen statt, häufig am Arbeitsplatz (41 Prozent), aber auch bei Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln (30 Prozent) und bei Freunden oder Bekannten zu Hause (17 Prozent). 71 Prozent der Frauen und 53 Prozent der Männer mit einem abgeschlossenen Studium haben sexistische Übergriffe gegen sich oder gegenüber anderen erlebt. Im Vergleich zu anderen Abschlüssen eine sehr hohe Prozentzahl – für beide Geschlechter! Potenziell fallen eher Frauen Sexismus zum Opfer, aber auch Männer, Frauen*, Männer*, die leider viel zu selten Gewicht in solchen Studien finden, sehen sich diesem Alltagsproblem gegenüber stehen. 

Als ich anfing, diesen Artikel für die eigenart zu schreiben, da wollte ich über Feminismus schreiben. Ein Leitartikel sollte es sein. Eine halbe Ewigkeit konnte ich mich nicht entscheiden, worauf ich mich fokussieren sollte. Eine Sache lag mir jedoch schon seit geraumer Zeit auf der Zunge. Dabei möchte ich betonen, ich bin eine cis-Person. Ich kann und möchte nicht für nicht-cis-Personen sprechen, denn ich erzähle hier aus meiner Perspektive. Damit ist keine Diskriminierung gemeint, sondern die Wertschätzung einer Mündigkeit, die ich niemanden absprechen möchte.

Photo: Sevasti Giannitsi
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”Typisch Frau”:

Im Rahmen einer Gruppenarbeit an der Uni fing alles mit einem dummen Witz an. Ein anderes Mal wurde etwas eigentlich selbstverständliches derart erklärt, als wäre man schwer von Begriff oder hätte schlichtweg keine Ahnung. Die meisten Male wurde die eine Meinung über die Meinung der anderen gestellt, ohne ersichtlichen Grund, außer dem Grund des Geschlechts. Manchmal wurde Unzufriedenheit mit einem Ergebnis damit abgetan, dass man ja menstruiere und daher schlecht drauf sei. Ein weiterer Witz, der nicht so gemeint ist, aber eigentlich genau das gleiche, wie die nächste übergriffige Anekdote: sexistisch. Plötzlich ist vieles durch Geschlecht begründet und plötzlich ist dann dieses Gefühl da, dass man mehr zur Frau gemacht wird, als man sich selbst vielleicht definieren würde. Denn strukturellen Barrieren in einer Geschlechterungleichheit hin oder her, selbst die offene Ansprache, dass man mit solchen Situationen nicht „okay“ sei, führt in den wenigsten Fällen zu einer Entschuldigung, einem Überdenken, einer Diskussion darüber oder gar einer Reflektion. Wunschdenken, aber das ist dann wie so vieles „typisch Frau“. Es ist aber auch eine damit verbundenen Herabstufung auf ein Geschlecht, dass mehr durch die Gesellschaft definiert wird als von betroffenen Person in solchen Situationen. „Man solle sich nicht so anstellen, man müsse sich sowieso ein dickes Fell anlegen, wenn man in der Welt da draußen überleben wollen würde“. Aber selbst mit dem dicksten Fell der Welt können die kleinsten Papercuts trotzdem ganz schön schmerzhaft sein.  

Wie gut, dass im 21. Jahrhundert das reine Überleben „da draußen in der Welt“ nicht mehr unberechenbar und ausschließlich von dem jeweiligen Geschlecht abhängt. Und es ist auch gut, dass viele Frauenbewegungen vor dem 21. Jahrhundert dafür gekämpft haben, dass Frauen* arbeiten und ein Bankkonto eröffnen dürfen, ganz ohne die Zustimmung eines Ehemannes. Dass sie nicht mehr dafür verantwortlich gemacht werden, wenn eine Ehe geschieden wird oder dass Vergewaltigung in einer Ehe eben zur ehelichen Pflicht dazu gehört. Dass über sexuelle Übergriffe öffentlichkeitswirksam gesprochen wird, dass Menstruation enttabuisiert und Luxussteuern auf Periodenprodukten abgeschafft werden sollen und sich über den Mittelalten-weißen-Mann in verschiedenen Formaten lustig gemacht wird, ist wichtig.

Photo: Sevasti Giannitsi
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Es ändert aber noch nichts an der Tatsache, dass solche sexistischen und übergriffigen Kommentare, Witze oder Situationen immer noch überall und viel zu oft passieren. Es ändert nichts daran, dass konstruierte Geschlechterungleichheit noch immer tief in den Köpfen aller Geschlechter und in der Gesellschaft manifestiert ist, dass Vorurteile vorhanden und nur schwer abzubauen sind und noch immer ein Unterschied gemacht wird. Es ändert nichts an der Tatsache, dass solche Themen eine Öffentlichkeit brauchen. Die brauchen sie ganz unbedingt. Sie brauchen das Wissen um die Tatsache, dass niemand aufgrund seines Geschlechts und seines Genders besser oder schlechter als andere ist. Sie brauchen eine Sensibilisierung, ein Wissen um die Grenze, an der Sexismus anfängt und aufhört, ein sich selbst zuhören und reflektieren.

Auch das klingt alles einfach und schön. Ich selbst habe viel Input, Vorbilder, Gespräche und vor allem ein Selbstbewusstsein gebraucht, um zu merken, wo meine persönliche Grenze ist. Ich habe aber vor allem ein Eingeständnis gebraucht: Alltags-Sexismus lauert überall und das ist nicht „okay“ – nicht als Frau, nicht als Mann, nicht als divers, nicht als Mensch.