Essay

Identität, für mich drei Straßen und zwei Kreuzungen.

Intersektionalität als Kreuzung von Diskriminierungsformen, ist das Spiegelbild meiner Identitäten.

Artwork by Joana Pratschke

Intersektionalität ist ein Begriff, der uns vor allem jetzt, nach den brutalen Morden an Ahmaud Arbery, Goerge Floyd, Breonna Taylor und vielen Opfern vor und nach ihnen immer wieder begegnet. Auf diese Morde folgte ein Aufschrei des schon lange existierenden Black Lives Matter Movements und mit Hilfe der Beweisvideos eine Reichweite, wie sie bislang bei Fällen von Polizeigewalt nicht gegeben war.  Vor allem in den Sozialen Medien wird der Begriff im Rahmen der aktuellen Rassismus-Debatten immer wieder in den virtuellen Raum geworfen, auch oft in Verbindung mit anderen Diskriminierungsformen. Intersektionaler Feminismus ist der einzige Feminismus, den es geben kann, wird dabei zum Beispiel immer wieder betont. Aber was bedeutet Intersektionalität und was bedeutet dieser Begriff in Bezug auf die eigene Person?

Intersektionalität wurde als Begriff und Konzept vor 30 Jahren durch die Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw eingeführt. Sie kritisierte damals das US-amerikanische Antidiskriminierungsrecht und prägte damit das Verständnis für und den Umgang mit den unterschiedlichen Diskriminierungsformen, die in die Strukturen unserer Gesellschaften eingeschrieben sind. Intersektionalität benennt das Zusammenwirken und Überkreuzen unterschiedlicher Diskriminierungsformen und gibt der Existenz von Mehrfachdiskriminierung somit einen benannten Rahmen. Menschen vereinen mehrere unterschiedliche Identitäten und Eigenschaften in sich und somit können auch unterschiedliche Diskriminierungsformen auf die jeweiligen Eigenschaften wirken. 

Im Kontext des Feminismus als Bewegung wurde und wird der Begriff daher vor allem “[…] von Schwarzen Frauen, Frauen of Color, lesbischen Frauen, jüdischen und muslimischen Frauen und Frauen mit Behinderungen verwendet, um Kritik an der Frauenbewegung zu üben, die ihre Lebensrealitäten nicht genug berücksichtigt.” (diversity-arts-culture.berlin/wörterbuch)

Auch in der Black Lives Matter Bewegung, die dieses Jahr vor allem auch im Pride-Monat Juni neue Reichweite, Unterstützung und Präsenz erlebte, wird das Konzept der Intersektionalität immer wichtiger, sogar der Movementname Black Lives Matter wurde in Black Trans Lives Matter erweitert. Intersektionalität gibt uns die Möglichkeit und das Bewusstsein von Mehrfachdiskriminierung betroffene Gruppen nicht zu übergehen, sondern explizit zu benennen, an erste Stelle zu setzen und zu schützen.

Mit jeder Eigenschaft/Identität die man in sich vereint und gegen die diskriminierende Strukturen wirken, schwinden die Privilegien und die Marginalisierung nimmt zu.

Artwork by Joana Pratschke

Bildlich kann Intersektionalität mit einer Straßenkreuzung erklärt werden,  wo Diskriminierungsformen wie Ableismus, Altersdiskriminierung, Cis- und Heterosexismus, Klassismus, Colorism, Homophobie, Anti-Asiatischer Rassismus, Anti-Schwarzer Rassismus, Anti-Indigener Rassismus, Islamophobie/Anti-Muslimscher Rassismus, Anti-Roma-Rassismus und Anti-Semitismus aufeinander treffen.

Auf Grundlage dieser Begriffsdefinition, sind aber eben nicht nur Diskriminierungsformen intersektional, sondern auch unsere Identitäten.

Die uns persönlich betreffende Straßenkreuzung spiegelt unsere vielschichtigen Identitäten und Eigenschaften wider.

Die eigenen unterschiedlichen Identitäten zu erkennen ist ein Prozess, der meistens unumgänglich im Kindesalter anfängt. Erst mit dem Erkennen der jeweiligen Identität, kann ein Verständnis für die damit zusammenhängenden Diskriminierungen und deren Auswirkungen auf das eigene Leben entwickelt werden.

Während betroffenen Personen meistens die Verantwortung für die Aufklärung über die jeweiligen Formen von Diskriminierung erteilt wird, wird dabei außer Acht gelassen, dass dieses Wissen nicht mit der Identität angeboren ist, sondern mühsam ausgehend von Diskriminierungserfahrungen gesammelt, verarbeitet und in einen gesellschaftlichen Kontext gesetzt werden musste, um erst zu lernen, wie man sich dagegen wehren kann, um sich zu empowern und in vielen Fällen auch um zu überleben.

Dieser Prozess des Erkennens und Aufarbeitens der eigenen Identitäten, geschieht meistens unfreiwillig und ist ein Produkt der Marginalisierung.

Dieser Prozess ist ein Kennenlernen der eigenen Identitäten und wird vor allem dann kompliziert, wenn man mehrere Eigenschaften in sich vereint, die bezüglich gesellschaftlicher Normen und Vorurteilen widersprüchlich zu sein scheinen.

Aus meiner eigenen Erfahrung gesprochen, fühlt sich dieses Kennenlernen rückblickend an, wie allein eine breite unbefahrene Straße herunterzulaufen. Diese erste Straße entspricht der offensichtlichsten Identität, die man in sich trägt, für mich war es das Frau-Sein. Am Anfang der Straße liegt erstmal das pure Erkennen dieser Identität, erst beim Laufen wird die Bedeutung dieser klarer. Was bedeutet es eine Frau zu sein? Was wird von mir erwartet? Lassen sich erschwerte Zugänge darauf zurückführen? Werde ich deshalb weniger ernst genommen?

Man ist gezwungen diese Fragen zu beantworten, um voran zu kommen, aber auch um vergangene Geschehnisse, die man als unangenehm in Erinnerung hat, endlich zu verstehen oder einordnen zu können. Hierfür muss man sein Wissen erweitern, nach Quellen suchen und Begriffe, wie zum Beispiel Sexismus, Othering und Marginalisierung neu erlernen.

Sobald man im Verstehen der ersten offensichtlichsten Identität weitergekommen ist, führen die erlernten Begriffe und Quellen an eine Kreuzung, bei der man auf die nächste Identität stößt. Für mich war das mein arabischer Migrationshintergrund.

Es wird deutlich, dass man zuerst die Identitäten an sich entdeckt, die einem von der Gesellschaft zugeschrieben werden. Heute weiß ich, dass das meistens durch Othering geschieht. Man wird darauf aufmerksam gemacht, dass man anders ist, dass da etwas ist, was es zu definieren gibt.

Man bekommt seine Identität zu spüren indem man auf sie reduziert wird und wird demnach gezwungen sich mit den Zuschreibungen und Konsequenzen der jeweiligen Identität zu beschäftigen.

Während man also auf die sich kreuzende neue Straße abbiegt, fängt ein neuer Prozess an, in dem zusätzlich auch das Zusammenwirken von beiden Identitäten eine große Rolle spielt.

Artwork by Joana Pratschke

Ich bin eine Frau mit arabischem Migrationshintergrund. In Zusammenwirkung entstehen hier nochmal neue Zuschreibungen, Vorurteile und Diskriminierungsweisen. Es wird immer deutlicher, dass sich das Frau sein, nicht von dem Migrationshintergrund trennen lässt und dass die Diskriminierungserfahrungen sich nie nur auf eine der beiden Identitäten beziehen.

Nachdem die Wut, das Gefühl von Unterdrückung und Ungerechtigkeit einer kämpferischen Akzeptanz weicht, die vorausgesetzt wird, wenn man denn über die gesellschaftliche Zuordnung hinauswachsen will. Man fängt an die Tatsache zu akzeptieren, dass eben nicht Alle alles erreichen können, wenn sie nur hart genug arbeiten. Dieser Logik würde nämlich vorausgehen, dass Alle die gleichen Ressourcen, Zugänge und Chancen zu Verfügung haben, was in unserer kapitalistischen Gesellschaft definitiv nicht der Fall ist.

Bei weiterem Entlanggehen der zweiten Straße, kommt man vielleicht, wie in meinem Fall, an eine Straße deren Identität man sich selbst zuschreiben möchte. Mit jeder hinzugewonnenen Identität wird die Auseinandersetzung komplexer, insbesondere, wenn es um so fluide Eigenschaften geht, wie Sexualität und Gender. Allein die Tatsache, dass ich schreibe, dass ich mich mit meiner Sexualität auseinandersetzten musste, offenbart dem Leser schon, dass diese Queer ist.

Denn heterosexuelle Cis-Personen müssen diese Straße nie betreten, genauso wie weiße Deutsche die vorherige Straße nicht betreten müssen und Cis-Männer die erste Straße auch nicht.

Queerness allein hat Konsequenzen in unserer Gesellschaft, die es genau gilt zu erfahren, zu verstehen und einzuordnen, während man eigentlich damit beschäftigt ist sich erstmal selbst zu erfahren, zu verstehen und einzuordnen.

Artwork by Joana Pratschke

Umso komplizierter wird es, wenn sich zwei oder mehrere der Identitäten laut gesellschaftlichen Zuschreibungen zu widersprechen scheinen, wenn eine der Identitäten die andere zu negieren scheint. Diese Arbeit, die nötig ist, um dieses Netz an eigenen Identitäten zu spannen, sie zu verstehen und zu akzeptieren, ist eine Arbeit, die in unserer Gesellschaft weißen Cis Männern erspart bleibt. Das ist Beweis für die ungerechte Privilegienverteilung und dem Machtgefälle, auf das die Strukturen unserer Gesellschaft aufgebaut sind.

Ich bin eine Frau mit arabischem Migrationshintergrund und queerer Identität. Bis zum heutigen Punkt ist das mein Netz, meine Kreuzung, die ich in mir trage und die ein Spiegel der Diskriminierungsformen ist, die ich erfahre. Ich weiß nicht ob ich nochmal an eine Kreuzung kommen werde, aber bin erstmal auch genug mit diesen drei Identitäten beschäftigt.

Für jede marginalisierte Person sieht dieses Netz anders aus, auch die Reihenfolge, in der die eigenen Identitäten verarbeitet werden und der Zeitpunkt, ab dem die Auseinandersetzung beginnt, ist ein anderer. Was aber für Alle gleich ist, ist der gesellschaftliche Druck sich mit den eigenen Identitäten auseinander setzen zu müssen.

Vor allem jetzt, in einer Zeit, in der wir andauernd Informationen zu unterschiedlichen Formen der Diskriminierung vorgelegt bekommen ohne gezielt danach zu suchen, ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass der Prozess der Auseinandersetzung mit Diskriminierung für betroffene Personen individuell und oft sehr persönlich ist.

Demnach sollten eigentlich genau die Menschen, die nicht von Diskriminierungen betroffen sind, sich weiterbilden und eben auch reflektieren, wie sie, oft auch unwissentlich, selbst zu den diskriminierenden Strukturen beitragen, anstatt marginalisierte Personen zusätzlich zu belasten und als Wissensportale zu benutzen. Diskriminierungen sind nun mal Problem der Diskriminierenden und dort liegt auch die Verantwortung, diese Strukturen zu de konstruieren und neu aufzubauen.